Alarm für die Demokratien

28. April 2014 • Pressefreiheit • von

Was haben in den letzten Jahren nicht Internet-Gurus, aber auch ernstzunehmende Wissenschaftler alles über die neuen Freiheiten und das Demokratisierungspotential von Web 2.0  fabuliert.

Der alarmierende empirische Befund, mit dem jetzt zwei amerikanische Forscher, Karin Deutsch Karlekar und Lee B. Becker aufwarten, sieht leider ganz anders aus: Sie konstatieren an vielen Ecken der Welt sowohl bei der Presse- und Meinungsfreiheit als auch bei der Versammlungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit signifikante Rückschritte – und zwar nicht nur dort, wo autoritäre Regime (wie etwa in der Türkei, in Russland,  aber auch in Ungarn oder der Ukraine) solche elementaren bürgerlichen Freiheiten gezielt abgewürgt haben, sondern auch in „seit langem etablierten Demokratien“ namentlich in Westeuropa, wo eher ökonomische Probleme daran schuld seien, dass diese Freiheiten und Bürgerrechte verkümmerten.

Die Studie der beiden Forscher basiert auf einem Langzeit-Vergleich von Daten, die Freedom House, eine amerikanische Nonprofit-Organisation, seit Anfang der 80er Jahre weltweit erhebt – wobei diese Organisation, anders als „Reporter ohne Grenzen“ in Europa, nicht nur der Entwicklung der Pressefreiheit nachspürt, sondern sich eben auch um die anderen elementaren bürgerlichen Freiheitsrechte kümmert. Der Datenabgleich zeigt, dass Demokratie und Pressefreiheit sehr eng miteinander korrelieren: Erstere ist ohne letztere wohl nicht zu haben, und wenn letztere bedroht ist, ist stets auch die Demokratie selbst akut gefährdet.

So sorgfältig und redlich sich Organisationen wie Freedom House und Reporter ohne Grenzen bemühen mögen, ihre Daten weltweit zu erheben, so schwierig und problematisch bleibt allerdings trotzdem der Vergleich über die Kulturgrenzen hinweg – weshalb auch eine Forschungsarbeit wie die von Karkelar und Becker, die jetzt erstmals langfristige Schlussfolgerungen aus den vorhandenen Datensätzen zieht, mit Vorsicht zu genießen ist.

Hinzu kommt, dass derzeit keine wissenschaftliche Studie ermessen kann, welche dramatischen Folgen für die Presse- und Meinungsfreiheit es hat, dass wir alle von der NSA und ihren verbündeten Geheimdiensten ausgehorcht werden. Mit den Enthüllungen Edward Snowdens hat sich die Welt der Demokratien wohl mehr verfinstert, als dies Putin und Erdogan, die iranischen Mullahs und andere finstere Autokraten selbst bei gemeinsamen Anstrengungen je vermocht hätten.

Erstveröffentlichung: Tagesspiegel vom 28. April 2014

Der Beitrag ist Teil einer Serie – alle 14 Tage präsentieren drei Medienforscher im Tagesspiegel Ergebnisse und Streitfragen ihres Fachs, die das EJO zweitveröffentlicht.

Teil 1: Lauter, bitte!

Teil 2: Das Publikum vergisst rasch

Teil 3: Politik – mit und ohne Etikett

Teil 4: Facebook im Sinkflug?

Teil 5: Schneidet die alten Zöpfe ab!

Teil 6: Geschlechterklischees in den Medien

Bildquelle: Gabi Eder / pixelio.de

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