Mega-Müll oder Mega-Chance?

26. Juni 2008 • Medienökonomie • von

Publizistik, 2 / Juni 2008

Bedenken und Bedenkenlosigkeiten aus dem Gratisblätterwald
Die Gratispresse mischt weltweit den Printmarkt auf, versetzt Verlage und Redaktionen in Aufruhr, Aufbruch- oder Kampfesstimmung, überschüttet Heerscharen von Pendlern mit immer mehr Informations-Fast-Food und fällt ganze Wälder: 570 Bäume fallen zurzeit jeden Tag weltweit allein für die Gratispresse und nirgendwo in Europa ist die Pro-Kopf-Auflage so hoch wie in der Schweiz. Bewirkt sie nichts als Mega-Müll? Oder eine Mega-Chance? Ein Protokoll der grössten Verlockungen, Bedenken und Bedenkenlosigkeiten.

Verführerische Marktdaten…
Es riecht nach Goldgräbern: In 26 europäischen Ländern erscheinen zurzeit Gratis-Tageszeitungen, weltweit 170 Titel. Innerhalb von fünf Jahren verdoppelten sie ihre Auflagen laut Angaben des Weltverbands der Zeitungen auf 27 Millionen gedruckte Exemplare und belegten damit 2006 ein Drittel des europäischen und 8 Prozent des weltweiten Zeitungsmarktes. Pendlerblätter scheinen dicke Nuggets zu sein in den Tiefen und Untiefen des Printgeschäfts.

Zum Beispiel in der Schweiz, wo allein die ältesten drei Pendlerzeitungen in der Statistik der Arbeitsgemeinschaft für Werbemedienforschung (Wemf) für das Frühjahrsquartal 2008 der Tagespresse einen Zuwachs um 1,2 Millionen Kontakte eintrug. Die beiden 2006 neu lancierten Pendlerblätter hinzugerechnet, wird der Marktanteil der Gratispresse auf gegenwärtig 45 Prozent geschätzt, zwei Verleger haben bereits neue Projekte angekündigt. Bereits jetzt werden nirgendwo sonst in Europa mehr Gratiszeitungen gedruckt wie in der Deutschschweiz: für beinahe jeden zweiten Einwohner über 14 Jahren täglich ein Exemplar, ermittelte die Tamedia für ihre Bilanzmedienkonferenz einen Auflagenvergleich. Auf Platz zwei ist die Westschweiz, gefolgt von Dänemark, wo etwa jeder dritte versorgt ist, Schweden, den Niederlanden und Spanien.

Die Goldgräberstimmung in der Schweiz entstand durch 20 Minuten . Der norwegische Konzern Schibstedt startete 1999 das Pendlerblatt in der Eidgenossenschaft und verkaufte den ertragreichen Claim 2003 an die Schweizer Verlagsgruppe Tamedia . 20 Minuten erscheint heute täglich in sieben Städten, schob sich 2004 mit knapp 1,2 Millionen Lesern vor alle anderen Tages-Titel, auch vor das Tamedia Flaggschiff Tages-Anzeiger , und ist die Cash-Cow im Stall: 2005 spülte das Pendlerblatt 12 Millionen Euro in die Kassen. Das ruft Nachahmer auf den Plan.

Und Abwehrstrategen. In Deutschland begann alles ganz ähnlich, mündete aber in einen sogenannten „Zeitungskrieg“. Schibstedt startete 1999 in Köln ebenfalls 20 Minuten. Die ortsansässigen Kaufzeitungsverlage DuMont und Axel Springer zogen in den Kampf mit Konkurrenz-Gratisblättern und mit Juristen, die einen Fall unlauteren Wettbewerbs nachweisen sollten. Das Oberlandesgericht Köln fand, Gratiszeitungen dürfe es geben, aber nur, wenn sie die bestehende Presse nicht gefährden. In Köln war dies definitiv nicht der Fall: Die Kaufpresse verlor zwar kaum an Auflage, aber das Herz blutete. Der Kampf endete im Juni 2001, weil Schibstedt überraschend sein Blatt einstellte. Zwei Tage später wurden die Abwehrblätter vom Markt genommen.

Bis heute gibt es in Deutschland noch kein Pendlerblatt, aber die Branche rechnet fast täglich damit – und rüstet sich. Die einen mit Kampfeswillen: „Wir können innerhalb von wenigen Tagen mit einer eigenen Gratiszeitung kontern“, liess sich eine Sprecherin des Medienkonzerns Springer im Handelsblatt zitieren, als der damals noch amtierende Chef der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel, im Herbst 2007 Verlagen die Hand bot, im Verbund mit der Post eine kostenlose, überregionale Tageszeitung herauszubringen. Und die anderen? Nichts Genaues weiss man nicht. Es fallen Namen (Burda?, Frankfurter Allgemeine Zeitung?…), Ideen (ein Gratisblatt für Motorjournalismus? Oder Computer?), Dementis – und zumindest keine klaren Entscheidungen. Noch nicht. Im Mai wurde bekannt, Verlegerverband und Post haben sich auf „verstärkte Zusammenarbeit“ verständigt. Übersetzt heisst das, die Post bringt vorläufig nicht im Alleingang Gratis-Spezialtitel heraus wie das geplante „Online aktuell“ mit Computerthemen. Der Verlegerverband hatte erbitterten Widerstand bis hin zu einer Klage auf EU-Ebene angekündigt und mit einem alternativen Zustelldienst gedroht.

Auch in der Schweiz sind harte Bandagen angelegt. Wer gewinnt? Wer blutet den anderen Verlag aus? Michael Ringier kämpft gegen den Sinkflug seiner Boulevard-Marke Blick, will sie ab Sommer durch eine Gratis-Version puschen und das mässig erfolgreiche Nachmittags-Pendlerblatt Heute aus dem Verlags-Portfolio nehmen. Drei Zeitungsverlage – Basler Zeitung, Berner Zeitung und Tamedia – stecken hinter News, der jüngsten Pendlerzeitung, und verteilen sie in den Ballungszentren Zürich, Basel, Bern sowie im Aargau. Peter Wanner, der Verleger der Mittelland Zeitung und der Aargauer Zeitung, fühlt sich dadurch unter Beschuss und kündigte für Herbst 2008 ein eigenes Gratisblatt an. Und die Tamedia, der ja weiterhin 20 Minuten gehört, konkurrenziert sich mit News sogar selbst. Soll dies, ähnlich wie Monate zuvor die Berner Zeitung, bald auch die Basler Zeitung in den Schoss der Tamedia bringen? Vieles liegt im Nebel. Peter Wanner orakelt, im Verlagsgeschäft werden die Methoden immer „skrupelloser“.

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Der Marktpionier, die Metro-Gruppe, gründete in Schweden 1995 die erste Gratis-Zeitung, platziert heute 70 Ausgaben in 23 Ländern, reduzierte aber bislang lediglich ihre Verluste – von zweistelligen auf einstellige Millionen-Summen, Medienkönig Rupert Murdoch legte nach zehn Monaten bereits 17 Millionen Pfund drauf für die neue Gratisabendzeitung, die er sich in London leistete. Der isländische Dagsbrún-Verlag meldete im April 2008, nach zwei Jahren, den Rückzug an aus dem Gratiszeitungsmarkt in Dänemark und in den USA, obwohl der britische Economist seinen Titel Boston Now als eines der bestgemachten Gratisblätter der Nation lobte. Die Qualität glich aber die Einbussen nicht aus: die Anzeigenflaute, der weltweite Börsenniedergang und die dramatische Abwertung der einheimischen Währung trafen den Mischkonzern Baugur, zu dem Dagsbrún gehört, empfindlich. Das erzeugt Bedenken: Wie riskant sind solche Abenteuer wirklich?

Verlockende Werbeprognosen…
Idealtypisch finanzieren sich Gratisblätter rasch aus Anzeigenerlösen und stützen am Besten noch andere Produkte eines Verlags. In der Tat: die Prognosen klingen grossartig. Experten rechnen mit zweistelligen Zuwachsraten – und das in Zeiten, in denen der Anzeigenschwund ins Internet zur Verlegersorge Nummer Eins wurde. Sicher ist: Gratiszeitungen verändern die Kräfteverhältnisse auf dem Anzeigenmarkt. Aber sie machen noch abhängiger von den Launen des Werbemarkts – und von der Gunst der in Wirklichkeit oft eher zurückhaltend buchenden Mediaplaner. In der Schweiz steigerte der missglückte Start von .ch diese Vorsicht noch. Den Titel Heute halten die einen für etabliert und zeichnen Inserate, andere bezeichnen ihn als kaum greifbar, dritte lockt die Anzeigen-Kombination mit dem Blick. Die Tamedia lässt für News Zürich nur in Kombination mit dem Tages-Anzeiger buchen, in Basel, Bern und im Mittelland sind auch Allein-Buchungen möglich.

Werbung könnte gerade bei der Gratispresse noch einen anderen Wert erhalten. Das andere Pendlerblatt Heute, jenes in Österreich, veröffentlichte bedenkenlos private Details und Auszüge aus Arztgesprächen von Natascha Kampusch. Der verantwortliche Journalist rechtfertigte, die Wahrheit könne nicht unethisch sein. In solcherlei Fällen sitzen Anzeigenkunden auch am „Ethik-Knopf“: Welchem Markenartikler kann ein Werbeumfeld gefallen, wo auf niedrigstem Niveau ein Sensationsjournalismus betrieben wird, gegen den in diesem Fall nun Kampuschs Anwalt Klage einreichte? Die Frage, ob buchen oder nicht buchen, kann also prinzipiell auch ethische Aspekte haben und redaktionelle Standards sichern.

Leser-Botschaften…
Gratiszeitungen sind einfach da, kosten nichts, haben handliches Tabloid- oder Kleinformat und lassen die zwanzig Minuten, die der pendelnde Mensch durchschnittlich in Zug, Bus oder Strassenbahn verbringt, vergehen wie im Flug. Manche haben sogar ein eher unerwartet hohes Qualitätsniveau: alle fünf Schweizer Blätter präsentieren sich solide und versuchen, ein eigenes Profil zu prägen – 20 Minuten durch hohe Online-Kompetenz, News durch Kommentare, .ch durch öffentliche Blattkritiken externer Autoren. Und den Leser erwarten auch gratis oft selbst recherchierte Geschichten.

Als Gegenleistung lockt scheinbar die Erlösung von der zweiten grossen Geisel der Gegenwart, dem Verlust junger Lesergruppen. Jeder zweite Leser eines Gratisblatts ist unter 30. Diesen Zahlen kann man nicht bedenkenlos trauen. Das Verhältnis der Jüngeren zur Schreib-Lese-Generation bleibt dauerhaft gestört, behauptet Philipp Ikrath von der deutsch-österreichischen Jugend-Marktforschungsagentur „TFaktory“. Er glaubt nicht an die Hoffnung vieler Verleger, dies sei ein erster Schritt, sich spätestens im „Familienalter“ dann Zeitungen zu kaufen. „Zeitung lesen hat heute keinen Wert mehr unter vielen Jüngeren, sondern wirkt eher peinlich.“ In die Zeitungsbox greife man, weil sie halt da steht.

Das macht jeder. Für ein Kaufblatt tut man was: Man geht extra zum Kiosk, wählt aus, bezahlt, liest. Für ein Gratisblatt macht man nichts: Man nimmt es nur im Vorbeigehen, wählt nur aus, wenn mehrere Boxen da stehen, liest bis man aussteigt – aus Leselust oder aus Langeweile – und lässt es dann auf dem Sitz liegen. .ch wollte besonderes schlau sein, stellte Zeitungsständer in die Hauseingänge, um bei den Leuten zu sein, ehe diese am Bahnhof, und damit an der Box der Konkurrenz ankommen, und zudem auch die Autofahrer erreichen. Doch viele Leute ärgerten sich und warfen die Gestelle neben die Eingänge. In Dänemark befasst sich das Parlament mit dem wachsenden Ärger von Bürgern über die hohe Dosis des kostenlosen Informations-Fastfoods. An immer mehr Briefkasten kleben Etiketten: „Bitte keine Gratiszeitung“.

Im Kampf der Verlage werden Leser rasch zum Kanonenfutter und Städte zu Altpapier-Schlachtfeldern. Einige Kommunen fordern von den Verlegern eine Abfallgebühr wegen der zusätzlichen Reinigungskosten, die Walliser Gemeinde Sitten verlangt von Privatleuten, die eine Box auf ihrem Grund aufstellen lassen, 500 Franken Gebühr im Jahr. In London werden Verlage teils mit Entsorgungsstrafen belegt, eine Bürgerinitiative protestiert gegen drei zusätzliche Tonnen Papiermüll täglich. In Kalifornien hingegen machten manche in einem solchen Ausmass Gratisblätter als Altpapier zu Geld, dass nun jedem, der mehr als 25 Exemplare klaut, Gefängnis droht.

Der Gratis-Trend fällt weitere Wälder. Die gegenwärtige Auflage der Gratispresse allein in der Deutschschweiz liegt bei 1,6 Millionen Exemplaren – etwa gleich viel wie in London, das etwa so viele Einwohner hat wie die ganze Schweiz. Rechnet man das Papier in Holz um, bedeutet das, es fallen täglich jeweils 36 Bäume allein für die Gratispresse der Deutschschweiz.

Verheissungsvolle Prognosen aus der Wissenschaft…

Was gut gemacht ist, bleibt – gratis wie gekauft, prophezeit der Leipziger Journalistikprofessor Michael Haller. Gratiszeitungen sind nicht schuld an den Einbussen der Kaufzeitungen, hier wirke ein genereller Trend, aber auch schlechte Qualität. Im Auftrag der Stiftung Presse-Grosso erforschte Haller die Gratispresse auf dem europäischen Pressemarkt und diagnostiziert: Kaufblätter sind in Frankreich, Schweden und Dänemark, wo es eine reichhaltige Gratis-Szene gibt, im ähnlich schnellen Sinkflug wie in Deutschland, wo es bislang kein Pendlerblatt hat. Haller attestiert den skandinavischen und Schweizer Gratisblätter die beste Qualität, den osteuropäischen die niedrigste. Er sieht Kauf- und Gratisblatt umschlungen: Gut gemacht, werbe ein Pendlerblatt für die Kulturtechnik des Lesens; schlecht gemacht, beschädige es das Image von beiden. Und er prognostiziert eine Segmentierung in Qualitäts-Kaufzeitungen für die, die das Besondere schätzen, und in Gratis-Blätter mit Pfiff und hoher Online-Kompetenz, die crossmediale Speerspitzen werden können. Der Billigjournalismus dazwischen verschwinde.

Das klingt verheissungsvoll. Doch wir müssen einen Schritt weiter. Solche Prognosen treffen nur ein, wenn Verlage und Redaktionen Veränderung und Bewegung nicht als Schreckgespenst betrachten. Online und e-paper können (Holz-)Ressourcen bewahren und Rezipientenwünschen der jüngeren Generation gerechter werden. Professioneller Journalismus kann sich dem Wandel öffnen ohne unprofessionell zu werden. Ein Verlag kann getrost in Qualitätssteigerung investieren und sich tunlichst vor zu riskanten Abenteuern hüten (geht der Niedergang der Kaufpresse nicht aufs Konto der Gratispresse, kann sie auch nie allein ihr Rettungsanker sein). Und wir alle können den Aufbruch geniessen – als Mega-Chance. Bedenkenlos.

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