Was Journalisten lesen

28. Mai 2004 • Redaktionsmanagement • von

Neue Zürcher Zeitung, 28. Mai 2004

Vom Einfluss der Leitmedien
Ob ein Medium einflussreich ist, lässt sich nicht allein an Auflagen und Einschaltquoten ablesen. Kaum minder wichtig ist, wie es von einer einzigen Berufsgruppe konsumiert wird: den Journalistinnen und Journalisten selbst. Carsten Reinemann von der Universität Mainz hat in einer umfassenden Studie analysiert, wie Medienschaffende in Deutschland die Medien nutzen.

Er stellt zunächst klar, dass das, was Kommunikationswissenschafter gerne und oftmals als «Kollegenorientierung» der Journalisten beschrieben und gescholten haben, unabdingbar notwendiges professionelles Handeln ist: «Ein zentrales journalistisches Motiv für die Beobachtung anderer Medien ist das Bestreben, die Anschluss- und Konkurrenzfähigkeit der eigenen Berichterstattung beim Publikum sicherzustellen.» Die Orientierung am Publikum sei also eine wesentliche Ursache dafür, dass sich Journalisten immer wieder stark an anderen Medien orientierten.

Täglich viereinhalb Stunden wenden laut Reinemann politische Journalisten auf, um sich über die aktuelle Berichterstattung zu orientieren – wobei vor allem die Printmedien «gemeinsame Informationsbasis» geblieben sind. Wie beim übrigen Publikum gibt es auch unter Journalisten ein Altersgefälle: Die älteren widmen sich länger der Tageszeitung, die jüngeren surfen intensiver im Internet.

Pflichtlektüre politischer Journalisten ist noch immer der «Spiegel». Vier von fünf Redaktoren widmen ihm Woche für Woche ihre Aufmerksamkeit. Der Wettbewerber «Focus» mag inzwischen das Hamburger Nachrichtenmagazin in den absoluten Reichweiten beim Publikum überholt haben, unter seiner Leserschaft befinden sich jedoch nur «etwa zwei von fünf Redaktoren». Die von Journalisten in Deutschland meistbeachteten Tageszeitungen sind mit täglichen Reichweiten von 60 bis 70 Prozent die «Frankfurter Allgemeine Zeitung», die «Süddeutsche Zeitung» und die «Bild»-Zeitung – mit einigem Abstand gefolgt von der «Welt». An Bedeutung gewonnen haben die «Berliner Zeitung» und der ebenfalls in der Hauptstadt erscheinende «Tagesspiegel». Beim Fernsehen dominieren die Nachrichtenangebote von ARD und ZDF; neun von zehn Journalisten verfolgen sie täglich. Unter den privaten Anbietern zieht lediglich der Nachrichtensender N-TV mit dem ZDF nahezu gleich. An Beachtung und damit an Gewicht verloren haben die «Frankfurter Rundschau», die «Zeit» und die politischen Fernsehmagazine.

Ein weiterer interessanter Befund: Auch Journalisten bevorzugen ihnen nahestehende Medien. Diejenigen, die sich in der Mitte des politischen Spektrums einstufen, haben aber «häufig grössere Medienrepertoires als ihre <linken> und <rechten> Kollegen». Reinemann führt dies auf ein «grösseres Orientierungsbedürfnis dieser Journalisten» zurück. Das liesse sich zuspitzen: Wer politisch festgelegt ist, will eben manches gar nicht so ganz genau wissen.

Carsten Reinemann: Medienmacher als Mediennutzer. Kommunikations- und Einflussstrukturen im politischen Journalismus der Gegenwart. Köln u.a.: Böhlau-Verlag 2003. 333 S.

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