2011 änderte die Fortbewegungsart der Zeitungen. Vom Gehen wechselten sie zum Hüpfen.
Wie gut sind wir über den Aufstand in Syrien informiert? Und wie gut über den Attentäter von Oslo? Wir sind hervorragend informiert. Die Medien haben in den letzten Wochen kein Detail zum Thema ausgelassen. Wie gut sind wir über den Demokratisierungsprozess in Tunesien informiert? Und wie gut über die Strategie von al-Qaida? Wir sind schlecht informiert. Die Medien haben sich seit Wochen nicht mehr für das Thema interessiert.
2011 ist in den Medien ein spezielles Jahr. 2011 brachte die höchste News-Dichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Revolutionen in Tunesien, Algerien, Ägypten, Libyen und Syrien, die Finanzkrisen in Athen, Lissabon, Rom, Brüssel und Washington, der Tod Osama Bin Ladens, das Attentat Anders Breiviks, der Absturz Rupert Murdochs, das Erdbeben in Neuseeland, die Atomkatastrophe von Fukushima.
Es ist mehr ein subjektiver Eindruck als eine wissenschaftliche Analyse. Aber uns scheint, dass vor allem die grossen Tageszeitungen im täglichen Nachrichten-Tsunami von 2011 zu lange nicht gesehener Leistungsstärke aufliefen. Unsere Blätter mussten in einer zuvor unbekannten Kadenz erleben, wie sie bei der schnellen Aktualität vom Internet abgehängt wurden. Sie mussten darum stetig überdauernde Substanz und Analyse nachliefern. Das gelang ihnen sehr gut.
Eigentlich war das Gegenteil zu erwarten. 2011 war in der Presse als das Jahr der großen Qualitätskrise ausgerufen, zumindest wenn man den Kulturpessimisten glaubte. Von Professoren wie Kurt Imhof bis zu den Journalistengewerkschaften wurde den Zeitungen der unaufhaltsame “Qualitätszerfall” prophezeit. Die dunkle Prognose basierte darauf, dass die Redaktionen zuvor Hunderte von Journalistenstellen abgebaut hatten, gerade auch beim Bestand der Auslandskorrespondenten.
Nun hat der Stellenabbau tatsächlich seine Auswirkungen gehabt, aber nicht dort, wo die Qualitätskritiker vermuteten. Zeitungen wurden nicht schlechter, sie wurden anders.
2011 brachte in den Tageszeitungen den Durchbruch des Event-Journalismus. Der Trend hatte sich zwar schon vorher abgezeichnet, doch nun wurde er endgültig manifest. Wenn irgendwo ein spektakuläres Ereignis ausbricht, so sagt der Event-Journalismus, dann werfen die Redaktionen ihre journalistischen Kapazitäten geballt in die Schlacht und walzen das Thema mit allen möglichen Facetten aus. Nach ein paar Tagen ist der Event gegessen, und man hüpft zum nächsten Schwerpunkt, von Neuseeland nach Ägypten, von dort nach Japan und zurück nach Pakistan.
Es ist dies keine publizistische als vielmehr eine ökonomische Entscheidung. Die Ressourcen sind heute auf nahezu allen Redaktionen knapp. Sie müssen dort eingesetzt werden, wo sie für das Publikum den größten Effekt hermachen.
Auf der Strecke bleibt dabei die Chronistenpflicht, die für Tageszeitungen lange die Maxime war. Nur noch ganz wenige Blätter können sich heute die nahtlose Chronik der laufenden Ereignisse noch leisten, etwa die International Herald Tribune, die Frankfurter Allgemeine und die NZZ. Die NZZ berichtet darum auch während Fukushima breitflächig über die neueste Lage an der Elfenbeinküste und während Abbottabad umfassend über die Regionalwahlen in Schottland. Das ist das teure Prinzip der Kontinuität.
Der sprunghafte, aber finanzierbare Event-Journalismus hingegen verzichtet auf diesen Gleichstrom der Dinge. Erst im Oktober, wenn dort Wahlen sind, werden wir wieder detailliert über die Lage in Tunesien informiert. Erst bei ihrem nächsten Anschlag erfahren wir wieder detailliert, was bei al-Qaida los ist. Journalisten sind definitiv keine Chronisten mehr. Sie sind Event-Manager geworden.
Erstveröffentlichung: Weltwoche Nr. 32/2011
Schlagwörter:Al Qaida, Erdbeben, Event, Event-Journalismus, Finanzkrise, Fukushima, News-Dichte, Oslo, Revolutionen