Es geschah 2012 in Ballyhea, einem kleinen irischen Dorf auf dem Weg von Limerick nach
Cork. Dort lehrte uns eine alte Dame eine wichtige Lektion über eines der Kernprobleme im
vereinten Europa. Jeden Sonntagmorgen zogen die rund 100 erwachsenen Dorfbewohnerinnen und -bewohner mit Traktoren und Lautsprecher ihre Hauptstraße entlang, um gegen die
Rettung der bankrotten irischen Banken zu protestieren. 64 Milliarden Euro Schulden hatte die irische Staatskasse bei den anderen Staaten der Eurozone und dem Internationalen
Währungsfonds dafür aufgenommen. Und stellvertretend für Hunderttausende aufgebrachter
Iren demonstrierte das gesamte Dorf mit großer Beharrlichkeit gegen diesen Freikauf der
Gläubigerinnen und Pleitebanker auf ihre Kosten.
Erstaunlicherweise waren die Texte mehrerer Transparente auf deutsch verfasst und richteten
sich kritisch an deutsche Adressatinnen und Adressaten. Darum fragten wir bei der freundlichen älteren Dame nach, die uns zunickte. Sollten die Iren den Deutschen nicht dankbar sein, dass diese Irland mit den Notkrediten vor der Staatspleite gerettet haben?
Daraufhin schaute sie uns an, als seien wir nicht ganz bei Trost. „Sie haben uns gerettet? Nein!“, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf. „Irland hat Europa gerettet. Bringen Sie das in Ihre Köpfe! Irland hat sich für die Schulden der Banken verbürgt. Das hat eure Banken gerettet und die Pleitewelle gestoppt. Irland hat Europa gerettet, und jetzt sollten wir dafür belohnt werden“, forderte sie unter lautem Applaus der Umstehenden.
Sie hatte Recht. Tatsächlich dienten die vermeintlichen Hilfskredite lediglich dazu, die privaten ausländischen (und da überwiegend deutschen) Gläubigerinnen und Gläubiger der ebenso
privaten Geldhäuser auszuzahlen. Nur deshalb konnten die deutschen Banken nach Ausbruch
der Krise im Jahr 2009 jene gut 100 Milliarden Euro wieder einkassieren, mit denen sie zuvor
die irische Immobilienblase aufgepumpt hatten. Die damals frisch gewählte irische Regierung
hatte eigentlich diese Kreditgeber an den Verlusten beteiligen wollen. Doch das verhinderte die Direktoren der Europäischen Zentralbank. EZB-Präsident Claude Trichet drohte dem kleinen Irland im Namen der Finanzstabilität kurzerhand mit dem Rauswurf aus der Eurozone, und der Regierung in Dublin blieb keine Wahl. Die Iren hatten also allen Grund, gegen die aufgezwungene Verschuldung zu protestieren. Und mit ihnen genauso die Portugiesen, Spanier und Griechen, denen es ganz ähnlich ging (vgl. Schumann 2013, 2015).
Aber davon haben die allermeisten Deutschen und anderen EU-Bürgerinnen und Bürger außerhalb der Krisenstaaten nie etwas erfahren, und das bis heute. Denn in den Ländern der Kreditgeber mochte kaum eine Journalistin, kaum ein Journalist darüber berichten. Stattdessen war die Berichterstattung geprägt vom Narrativ der vermeintlichen europäischen „Solidarität“.
Damit vertuschte die Regierung Merkel in Deutschland, dass es sich – nach der Weltfinanzkrise 2008 – schon um die zweite Bankenrettung binnen drei Jahren handelte. Bald darauf deklarierten auch die Regierenden in Frankreich und den anderen Eurostaaten die mehreren hundert Milliarden Euro an Notkrediten als großzügige Hilfe. Dabei ging es doch in Wahrheit darum – im Verstoß gegen den Vertrag von Maastricht, der die gegenseitige Haftung der Mitgliedsländer für deren jeweilige nationale Staatsschulden ausschließt – die überschuldeten
Krisenstaaten zahlungsfähig zu halten, um die eigenen Banken vor Verlusten und das Finanzsystem vor dem Zusammenbruch zu schützen. Aber diese Information blieben die meisten Zeitungen und Sender dieser Länder ihrem Publikum schuldig.
Nationale Perspektive statt europäischem Blick
Diesem Muster folgen Europas Medien seit Jahrzehnten: Immer wieder berichten sie über europäische Themen allein aus der jeweiligen nationalen Perspektive ihrer Sitzländer. Und das ist beinahe zwangsläufig irreführend. Die zunehmenden Anforderungen an die grenzüberschreitende Berichterstattung treffen zudem auf eine Branche, der mit dem Verlust der Werbeeinnahmen an das Duopol von Google und Facebook zusehends die wirtschaftliche Basis abhandenkommt. Die extreme Arbeitsverdichtung in den „Newsrooms“ zwingt viele Journalistinnen und Journalisten zu einer Art Fließbandarbeit, die kaum noch Recherche zulässt, und das erst recht nicht für europäische Themen, die wegen der Komplexität der EU-Politik zwangsläufig viel Zeit erfordern.
Gleich ob es um die EU-Gesetzgebung geht, um innereuropäische Konflikte oder auch nur um
wichtige Entscheidungen in den jeweils anderen europäischen Ländern: Die große Mehrheit der damit befassten Journalistinnen und Journalisten folgt in der Berichterstattung den Klischees und nationalen Vorurteilen ihrer Heimatländer (vgl. Fengler und Kreutler 2020 zur EU-weiten Berichterstattung über Migration). Der Blick über den nationalen Tellerrand endet spätestens dann, wenn es vermeintliche oder tatsächliche nationale Interessen zu verteidigen gibt. Das ist im Prinzip ein alter Hut. Seit je spiegeln Europas Medien die Machtstruktur im integrierten Europa – und in der EU haben vorrangig die nationalen Apparate das Sagen. Deren politische Repräsentantinnen und Repräsentanten stellen ihr Interesse am nächsten – nationalen – Wahlsieg und ihren persönlichen Machterhalt stets über das europäische Gemeinwohl. Und genauso berichten dann zumeist auch die Medien des jeweiligen Landes.
Das war schon immer irreführend, aber die Folgen waren begrenzt. Schließlich fielen die meisten politischen Entscheidungen in der Vergangenheit auf nationaler Ebene. Doch die drei
Jahrzehnte des gemeinschaftlich geregelten Binnenmarktes und erst recht die 20 Jahre der gemeinsamen Währung haben die Mechanismen der Politik in der Europäischen Union radikal
verändert. Die wirtschaftliche Integration durchdringt das gesellschaftliche Leben immer tiefer und unterwirft das politische Geschehen immer stärker den europäischen Zwängen. Die Völker der EU sind auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten. Ganz gleich, ob es den
Bürgerinnen und Bürgern und ihren Regierungen gefällt oder nicht: Entweder gestalten sie ihre Zukunft gemeinsam, oder sie müssen ihre Länder aus dieser Verschmelzung lösen. Für
Letzteres zahlen sie mit wirtschaftlichem Niedergang und politischer Marginalisierung – die
Folgen des Brexit demonstrieren das nur allzu schmerzhaft.
Je weiter sich diese europäische Interdependenz entwickelt, umso gefährlicher wird es daher,
wenn die Regierungen und in ihrem Gefolge die Medien im nationalen Kontext befangen bleiben. Das war während der Eurokrise in Deutschland archetypisch zu verfolgen. Objektiv ging es bei der Bewältigung der Überschuldung in den fünf Krisenstaaten um einen Verteilungskonflikt zwischen den Steuerzahlzahlern der Eurozone auf der einen Seite und der Finanzindustrie (Banken, Versicherungen, Pensionsfonds) auf der anderen Seite. Letztere hatten auf der Suche nach höherer Rendite den ungesunden Boom erst finanziert, mussten dann aber für ihre Fehlinvestitionen nicht haften, weil sie ‚systemrelevant‘ waren. Also wurde die Haftung auf die jeweilige Bevölkerung und über die Kredite indirekt auf alle Staatskassen der Euroländer umgelegt. Diesen Zusammenhang haben jedoch alle deutschen Qualitätsmedien weitgehend ignoriert. Stattdessen beteiligten sie sich an der vom damaligen deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und seinen europäischen Partnern betriebenen Schuldzuweisung an die Regierenden der Krisenstaaten, und das häufig in aggressivem Ton ohne nähere Prüfung.
Ausführlich berichteten sie über das Versagen der Griechen, Portugiesen und Spanier bei der
Kontrolle ihrer Staatsausgaben. So konnte die damalige Kanzlerin Angela Merkel gänzlich unwidersprochen einfach behaupten: „Die Verschuldung war in einigen Ländern so hoch, dass die Investoren ihnen nicht mehr vertrauten und deswegen keine Anleihen dieser Länder mehr kauften. Die Zinsen schossen in die Höhe, die Länder konnten sich nur noch zu ruinösen
Zinssätzen refinanzieren. In einer solchen Lage müssen die Defizite abgebaut werden, damit
die Anleger wieder Vertrauen fassen.“ (SZ 2013) Die Tatsache, dass die Zinsen infolge der Sparprogramme erst recht anstiegen, weil diese die Rezession noch viel schlimmer machten,
blieb praktisch unerwähnt. Und erst recht unterschlugen fast alle Medien, dass es vor allem die deutschen Großkonzerne Thyssen, Rheinmetall, Siemens und Hochtief waren, deren Emissäre griechische Beamte bestochen hatten oder im Kartell operierten, damit Griechenland
Rüstungsgüter und Infrastruktur kaufte, die sich das Land nicht leisten konnte. Dass die spanischen und irischen Immobilienblasen, die ja erst in die Überschuldung geführt hatten, überwiegend von deutschen Investoren finanziert worden waren, war den meisten Kolleginnen und Kollegen nicht mal eine Erwähnung wert. Selbst der Umstand, dass es die Deutsche Bank
war, die als „lead manager“ griechische Staatsanleihen auch dann noch an ihre Kundinnen und Kunden vertickte, als die Überschuldung längst offenkundig war (bis kurz vor Ausbruch der Krise im September 2009), passte meistens nicht ins Bild.
Als dann die Griechen 2015 auch noch eine (linke) Regierung wählten, deren Premier und
Finanzminister diese Wahrheiten offen aussprachen, kannten die Redaktionen in Deutschland
kein Halten mehr. Von der Tagesschau bis zur Süddeutschen Zeitung beteiligten sich alle deutschen Qualitätsmedien an einer einzigartigen Rufmordkampagne gegen den griechischen
Premierminister Alexis Tsipras, seinen Finanzminister Yanis Varoufakis und deren Regierung. Über Monate hinweg brachen sie dabei einen der wichtigsten ethischen Standards des
Journalismus: Audiatur et altera pars – man höre auch die andere Seite.
Auf der Basis von anonymen Quellen berichteten sie über die angeblichen Verfehlungen der Griechen bei den geschlossenen Sitzungen der Eurofinanzminister und des Europäischen Rates. Oder sie gaben unhinterfragt Aussagen über den angeblichen „Vertragsbruch“ der Griechen wieder oder über ihre Weigerung, ein alternatives Sanierungsprogramm vorzulegen. Nichts davon stimmte, aberden Autorinnen und Autoren waren die Vorwürfe nicht mal einen Anruf bei der griechischen Vertretung in Brüssel oder Berlin wert. Das Recht zur Stellungnahme galt für Griechenlands Regierungspolitiker plötzlich nicht mehr (vgl. Otto und Köhler 2016, Otto et al. 2016).
Das gipfelte schließlich in einem Titel des Spiegel über „Unsere Griechen – Annäherung an ein seltsames Volk“, der mit einer kulturrassistischen Karikatur daherkam. Dort tanzte ein dickbäuchiger Grieche mit Schnauzbart und Schnapsglas in der Hand am Rande des Abgrunds und droht dabei den armen deutschen Michel und seine Euros mit ins Verderben zu ziehen. Mit der veränderten Titelzeile „Unsere Juden – warum sie immer wieder aufmucken“ überspitzten die Kolleginnen und Kollegen des Satiremagazins Titanic schon wenige Stunden später auf drastische, aber passende Art die Arroganz und die Pauschalisierungen deutscher Medien gegenüber der gesamten griechischen Bevölkerung. Ressentiments waren an die Stelle von Aufklärung getreten und wirkten wie Brandbeschleuniger einer Krise, die bis in die Gegenwart der 2020er Jahre ausstrahlt.
Im Fall der Staatsschuldenkrise in der Eurozone war das Medienversagen besonders heftig.
Aber das war keineswegs ein einmaliger Unfall. Falsche und fehlende Berichte über europäische Themen und andere EU-Länder sind eher die Regel als die Ausnahme. So ging zum Beispiel die Berichterstattung über das Referendum zur Verfassungsreform und die Verkleinerung des aufgeblähten Parlaments in Italien im Dezember 2016 in fast allen deutschen Medien gründlich schief.
Diese priesen wie etwa die Tagesschau das Vorhaben als „Mutter aller Reformen“ zur Sanierung Italiens. Aber sie unterschlugen, dass der damalige Premier Matteo Renzi mit dem
Gesetzesvorschlag der jeweils führenden – und in dem Fall seiner eigenen – Partei 15 Prozent
mehr Stimmen im Parlament verschaffen wollte, als es dem Wahlergebnis entsprochen hätte.
Das empfanden viele in Italien als Anschlag auf die Demokratie und stimmten mehrheitlich
dagegen (Maggiore 2016). Dieses Motiv blieb hierzulande praktisch unerwähnt. Für das
deutsche Medienpublikum schien es daher, als hätten die chaotischen Italiener mal wieder
eine Chance verworfen, ihren Staat ordentlich zu organisieren.
Auch über die hartnäckige Neigung unserer polnischen Nachbarinnen und Nachbarn, die nationalistische PiSPartei an der Macht zu halten, erfährt das deutsche Medienpublikum meist nur die halbe Wahrheit. Gewiss, die Politik der Regierungspartei PiS ist frauenfeindlich und höhlt den Rechtsstaat aus, das ist allenthalben zu lesen oder zu hören. Aber nur sehr selten erfahren Zuschauerinnen und Leser, dass die liberale Vorgängerregierung unter Führung des heutigen Oppositionsführers Tusk über viele Jahre mit ihrer marktradikalen Politik große Teile der Bevölkerung von den enormen wirtschaftlichen Gewinnen des Landes ausgeschlossen hat. Gegen die massenhafte Prekarisierung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer setzte die nationalistische Partei die Einführung eines Kindergelds und sozialstaatliche Reformen, die vielen Polen erhebliche materielle Verbesserungen brachte. Darum haben sie gute Gründe, der Opposition zu misstrauen – und nehmen die antieuropäischen Ausfälle von Parteichef Jarosław
Kaczynski und seiner Truppe in Kauf.
Aber die verzerrte Darstellung der Vorgänge in anderen EU-Staaten ist keine deutsche Spezialität. In Frankreich ergingen sich Journalistinnen und Journalisten aller Couleur jahrelang
darin, das „deutsche Wunder“ am Arbeitsmarkt zu preisen und forderten darum, nach dem
vermeintlichen Vorbild von der anderen Rheinseite auch in Frankreich den Schutz der Beschäftigten vor Kündigung abzuschaffen. Dass die deutschen Hartz-Reformen nichts am regulären Kündigungsschutz geändert haben, ging dabei völlig unter. Selbst der damalige Chefökonom des französischen Arbeitgeberverbandes wusste das nicht, wie er auf Nachfrage
zugab. Erst recht „vergaßen“ die französischen Kolleginnen und Kollegen zu recherchieren,
dass nicht die Hartz-Reformen in Deutschland die Arbeitslosigkeit niedrig halten, sondern die
Kombination aus Kurzarbeit und tariflich vereinbarten flexiblen Arbeitszeiten. Diese erlauben
es deutschen Unternehmen, ihre Arbeitskräfte auch in Krisenzeiten weiter zu beschäftigen.
Ein Europa ohne europäische ‚Vierte Gewalt‘
Die unkritische Wiedergabe nationaler Klischees und interessengeleiteter Narrative geht vielfach einher mit einem erschütternden Desinteresse an der EU-Gesetzgebung und großer Unkenntnis über die Arbeit der europäischen Institutionen. In der Folge betreiben die EU-Staaten einen ganzen Strauß von politischen Maßnahmen ohne jegliche journalistische Prüfung – die ‚vierte Gewalt‘ kommt ihrer Pflicht zur Kritik und Kontrolle der Mächtigen auf europäischer Ebene nicht nach. Ein Beispiel dafür war über lange Jahre die Politik zur ‚Stärkung der EU-Außengrenzen‘. Dabei handelte es sich in erster Linie um eine milliardenschwere Subventionsbonanza für die Rüstungs- und Elektronikindustrie, mit der diese sich die Entwicklung ihrer neuesten Überwachungs- und Kontrolltechnologien auf Kosten der EU-Steuerzahlerinnen und -zahler finanzieren ließ, ohne dass irgendein messbarer Nutzen zum Grenzschutz daraus entstand. Das geht einher mit gravierenden Interessenkonflikten in den zuständigen Expertengremien, deren Mitglieder vielfach mit den Subventionsempfängern verbunden sind (Schumann und Simantke 2016).
Die mangelnde Kenntnis von und das mangelnde Interesse an den politischen Prozessen auf
EU-Ebene führen EU-weit dazu, dass Aussagen von Politikerinnen, Funktionären und Regierungen zu EU-Themen völlig ungeprüft Eingang in die Berichterstattung finden. Ein typischer Fall ist der Umgang der schwedischen Medien mit dem Vorschlag der EU-Kommission zur verpflichtenden Einführung von Mindestlöhnen. Die dortigen Tarifpartner und mit ihnen die
Regierung lehnen das aus Prinzip ab, weil sie eine Einmischung der EU in die nationale Lohnfindung fürchten. Dementsprechend zitiert dann Dagens Nyheter, immerhin die führende
Zeitung des Landes, die Arbeitsministerin und einen Vertreter des Unternehmerverbandes mit
der Behauptung, dass die Richtlinie Länder mit umfassenden Tarifvertragssystemen (wie
Schweden) nicht ausschließe. Tatsächlich aber heißt es in dem Gesetzentwurf ausdrücklich:
„Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, in denen der Mindestlohnschutz ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, weder zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns noch zur flächendeckenden Einführung von Tarifverträgen.“ (Europäische Kommission 2020)
Die befassten Reporterinnen und Redakteure sahen es offenbar nicht als notwendig an, den Text überhaupt zu lesen und verbreiteten diese Falschmeldung, die die Ablehnung der EU-Initiative verstärkte. In der Konsequenz trugen die Medien dazu bei, dass die Ausbeutung in Ländern ohne angemessene Mindestlöhne wie Bulgarien oder Rumänien ungebrochen weiterläuft, da sie die Blockadehaltung ihrer Regierung in Brüssel förderten. Noch schwerer wiegt, dass die Medien EU-weit kritiklos die vordemokratische Praxis der nationalen Regierungen tolerieren, ihre Verhandlungen über die Gesetzgebung im Rat der EU und seinen mehr als 150 Ausschüssen geheim zu halten. Derart der öffentlichen Kontrolle entzogen, können die Regierungen dort mehr oder weniger machen, was sie wollen.
Beispielhaft steht dafür das Schicksal des Gesetzes, welches transnationale Unternehmen zwingen sollte, öffentlich über ihre Steuerzahlungen, Umsätze und Beschäftigtenzahl differenziert nach einzelnen Staaten zu berichten. Mit diesem Gesetz plante die EU-Kommission seit 2015 die Steuervermeidung der großen Konzerne sichtbar zu machen und sie damit unter Druck zu setzen, die Steuern dort zu zahlen, wo sie die Gewinne erwirtschaften – und nicht in Steuerfluchtländern wie Irland, Luxemburg oder den Niederlanden beziehungsweise deren angeschlossenen Operettenstaaten in der Karibik. Diese Steuervermeidung kostet die Staatskassen der EU-Länder nach Schätzung der Kommission bis zu 70 Milliarden Euro im Jahr, das entspricht fast der Hälfte des jährlichen EU-Budgets.
Der Vorschlag hing jahrelang im Rat fest, weil eine Sperrminderheit von 13 Staaten die Verabschiedung gegen den Willen der großen Mehrheit des EU-Parlaments verhinderte. An der Spitze dieser Allianz stand die deutsche Bundesregierung. Das immerhin berichteten deutsche
Medien korrekt. Aber welche weiteren Regierungen mit den Deutschen gemeinsame Sache machten, dieser Frage ging niemand nach. Und ohne journalistische Intervention wäre das auch bis heute so geblieben. Erst als der grüne EU-Parlamentarier (und jetzige Wirtschaftsstaatssekretär) Sven Giegold gemeinsam mit Investigate Europe (einem europäischen Recherche-Team, dem auch Autorin und Autor dieses Beitrages angehören) publik machte, dass auch die Sozialdemokraten aus Portugal und Schweden entgegen ihre programmatischen Versprechungen das Spiel der Konzernlobby spielten, kam Bewegung in die Sache (vgl. Melchior et al. 2020). Unter dem Druck seiner eigenen Parteifreunde im Parlament, die sich auf die Presseberichte bezogen, musste Portugals Wirtschaftsminister seine Position ändern. Später folgte das österreichische Parlament dem portugiesischen Vorbild und im Mai 2021, sechs Jahre nach Einbringung des Gesetzentwurfes, verhalfen Rat und EU-Parlament ihm schließlich zu Gesetzeskraft.
Nicht jedes Mal findet die Sache ein vergleichbar gutes Ende. So scheitern viele wichtige Gesetze im Rat an einer von geschickten Lobbygruppen organisierten Sperrminorität, ohne dass die EU-Bürgerinnen und Bürger davon auch nur ein Wort erfahren. Natürlich liegt die Hauptschuld dafür bei den nationalen Regierungen beziehungsweise den Parlamentarierinnen und Parlamentariern, die ihren Ministern und Beamtinnen in Brüssel unkontrolliert freie Hand lassen. Aber eine wache und kritische journalistische Begleitung der EU-Politik und insbesondere der Hinterzimmer-Gesetzgebung in den Ratsgremien würde diese Praxis erheblich erschweren und den nötigen Reformdruck für mehr Transparenz erzeugen. Solange das nicht geschieht, werden die Europäerinnen und Europäer ständig falsch oder gar nicht über die europäischen Zusammenhänge informiert. Das aber macht es Populistinnen und Antieuropäern leicht, die EU-Bürgerinnen und Bürger gegeneinander und zunehmend auch gegen die EU und deren Institutionen aufzubringen.
Mit anderen Worten: Die Medien und ihre nationale Borniertheit sind selbst ein Teil des Problems, das gemeinhin verharmlosend das „demokratische Defizit“ der EU genannt wird. Das schadet letztlich auch der journalistischen Profession, völlig unabhängig vom individuellen Standpunkt. Je schwächer und undemokratischer die EU regiert wird, umso stärker werden die politischen Kräfte aus dem autoritären und autokratischen Lager, denen die Pressefreiheit
ohnehin ein Ärgernis ist.
Wege aus der Misere
Um der Misere zu entkommen, ist es notwendig, bei der Berichterstattung über Vorgänge in
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft die Frage nach dem europäischen Kontext zum verpflichtenden Standard zu machen. Ein erster wichtiger Schritt wäre, dass kein Journalistenschüler und keine Volontärin ihre Ausbildung beenden sollten, ohne wenigstens die Funktionsweise der EU-Institutionen und der zugehörigen Gesetzgebungsvorgänge gelernt zu haben. Bisher können selbst viele Politikjournalistinnen und -journalisten nicht einmal den Unterschied zwischen dem Europäischen Rat, dem Europarat und dem Rat der EU erklären. Noch wichtiger ist, dass die Medienarbeiterinnen sich systematisch mit den Kollegen anderer Länder in Europa vernetzen. Das bisherige System mit Korrespondentinnen oder schnellen Reportereinsätzen wird den Anforderungen einfach nicht mehr gerecht. Die (häufig wechselnden) Korrespondenten haben zumeist weniger Zugang zu den Machtstrukturen ihrer Gastländer, als die lokalen Journalistinnen sich dort schon im ersten Berufsjahr erarbeiten können.
Um Missverständnisse und Falschberichterstattung zu verhindern, sollten darum gerade die für ein bestimmtes Land zuständigen ‚Tischredakteure‘ in den heimischen Newsrooms Kolleginnen und Kollegen in den jeweils anderen Ländern kennen, die sie jederzeit um eine kurze
Einschätzung strittiger Vorgänge bitten können und die ihnen kompetente Gesprächspartner vermitteln. Auf diesem Weg können alle Redaktionen (informelle) europäische Teams aufbauen, die sich gegenseitig die Bälle zuspielen und vor Fehlern bewahren. Das gilt natürlich
erst recht für die Brüsseler Presseszene. Bis heute ist es so, dass sich die dortigen Korrespondenten in erster Linie von den Sprecherinnen der Institutionen sowie den Strippenziehern der jeweiligen nationalen „Ständigen Vertretungen“ briefen lassen, wie die EU-Botschaften heißen. Würden sie dagegen multinationale journalistische Teams bilden, die sich systematisch gegenseitig unterrichten, würden sie beinahe automatisch erkennen, wo die vermeintlich nationalen Interessen dem europäischen Gemeinwohl entgegenstehen.
Darüber hinaus bedarf es aber ganz grundsätzlich weit mehr genuin europäischer Berichterstattung an sich. Die ist allein mit den bestehenden Medienstrukturen nicht zu haben. „Europa, das interessiert die Leser nicht“, diese traditionelle Einstellung ist immer noch weit verbreitet, vor allem bei älteren Chefredakteuren und Ressortleiterinnen. Darum sollten die Pro-Europäer aller Parteien ernsthaft die Entwicklung eines öffentlich-rechtlich finanzierten europäischen Journalismus erwägen.
Die EU-Kommission hat den großen Bedarf im Prinzip auch schon erkannt. Immerhin legte sie bereits ein Pilotprogramm zur Förderung von investigativem Journalismus in Höhe von vier Millionen Euro jährlich auf. Seit diesem Jahr fördert die Behörde auch den Aufbau eines
„europäischen Newsrooms“, der 16 Nachrichtenagenturen zusammenbringen soll. Er werde
eine „Drehscheibe für Nachrichtenkorrespondenten sein, die gemeinsam an EU-Themen arbeiten“ (Europäische Kommission 2021).
Doch beide Vorhaben zeigen an, dass die EU-Kommission vom Wesenskern des unabhängigen Journalismus wenig verstanden hat. Denn die Vergabe dieser Gelder erfolgt nach dem Gusto anonymer Beamter und den Weisungen der zuständigen Kommissarin. Das aber macht die betroffenen Medienarbeiterinnern und -arbeiter abhängig vom Wohlwollen der Geldgeber, eine Konstruktion, die zwangsläufig Beißhemmung erzeugt.
Damit entsprechende Programme tatsächlich die kritische Aufklärung der EU-Bürgerinnen und Bürger über europäische Belange voranbringen, muss die Finanzierung zwingend unabhängig von der Exekutive und der Politik erfolgen. Wie sonst sollten die Journalistinnen und
Journalisten kritisch über die EU-Institutionen berichten? Entscheidend wäre darum eine
Initiative des Europäischen Parlaments zur Einrichtung einer öffentlich-rechtlich strukturierten Grundfinanzierung für EU-Journalismus. Damit ist allerdings nicht die Finanzierung eines
einheitlichen EU-Fernsehens aus Brüssel nach dem Modell von Euronews gemeint. Und es
würde auch nicht bedeuten, ein Magazin wie Politico – bisher eine auf Englisch erscheinende
Fachzeitung, die sich an Aktive im politischen Betrieb Brüssels richtet – künftig einfach in allen EU-Sprachen herauszugeben. Denn alle Erfahrung lehrt, dass EU-Medien nicht funktionieren.
Dafür sind die journalistischen Kulturen sowie die zugehörigen Gewohnheiten von Leserinnen und Zuschauern zu verschieden. Ein Spitzenartikel aus Frankreich kann in einfacher deutscher Übersetzung unlesbar sein und umgekehrt. Das Ziel einer öffentlich-rechtlich finanzierten Europaberichterstattung müsste vielmehr sein, unabhängige Journalistinnen und Journalisten auszubilden und zu finanzieren, die dann in ihren jeweiligen Ländern europäisch berichten und so die rückständigen Medien für Europa öffnen.
Das mag erst mal utopisch klingen. Denn vielfach fehlt noch die politische Einsicht: Zwar wissen die Regierenden in der EU, dass es für alle großen Probleme unserer Zeit längst keine
nationalen Lösungen mehr gibt – vom Klimaschutz bis zur Verteilungsgerechtigkeit. Aber die
allermeisten Politikerinnen und Politiker (und mit ihnen die staatlichen Apparate) weigern sich bisher, diese europäische Realität tatsächlich ernst zu nehmen. Darum betreiben praktisch alle Regierungen die EU-Politik als Verlängerung ihrer nationalen Machterhaltung und bereiten damit genau dem Neo-Nationalismus den Weg, den sie doch fürchten und bekämpfen. Diese rückständige und gefährliche Realitätsverweigerung sollten Journalistinnen und Journalisten nicht länger mitmachen – und sei es auch nur, um ihre Glaubwürdigkeit und die Pressefreiheit zu verteidigen.
Dies ist eine Zweitveröffentlichung. Dieser Artikel erschien zuerst im Band “Welche Öffentlichkeit brauchen wir?” der Otto-Brenner-Stiftung sowie unter Creative-Common-License im Springer-Verlag.
Quellen
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Fengler, S., & Kreutler, M. (2019). Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien. Die Berichterstattung über Flucht und Migration in 17 Ländern. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung. https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/informationsseiten-zu-
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Otto, K., Köhler, A., & Baars, K. (2016). „Die Griechen provozieren!“ – Die öffentlich-rechtliche Berichterstattung über die griechische Staatsschuldenkrise. Frankfurt am Main: Otto Brenner Stiftung. https://www.otto-brenner-stiftung.de/wissenschaftsportal/publikationen/
titel/die-griechen-provozieren/aktion/show/
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Süddeutsche Zeitung (2013, 2. Juli). Bundeskanzlerin Merkel im Interview: „Wir werden im Laufe der Jahre nicht an weiteren Vertragsänderungen vorbeikommen“.
Schlagwörter:EU, Europa, Finanzkrise, Medien, Öffentlichkeit