Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung
Die Presse-Entwicklung im Grossraum San Francisco als Blick in die Zukunft?
Im Grossraum von San Francisco leben fast so viele Personen wie in der Schweiz. Die Leute sind gebildet und wohlhabend. Dennoch fällt es der Qualitätspresse schwer, sich zu behaupten.
Wer sich zuletzt vor ein paar Jahren in der Bay Area rund um San Francisco umgesehen hat, für den ist die Zeitungslandschaft nicht wiederzuerkennen. Dabei dürfte sich nirgendwo in den USA früher als hier abzeichnen, wohin die Reise geht: Kein anderer Agglomerationsraum in Amerika prosperiert so wie der Landstrich rund um San Francisco. Das Durchschnittseinkommen in der Region ist höher als im Rest der USA, und vermutlich wird in kaum einem Winkel der Welt mehr Reichtum akkumuliert. Die Region ist ein bunter, friedlicher multikultureller Schmelztiegel, das Publikum ist gebildet. Man vermutet hier mehr Zeitungsleser als anderswo.
Eine wohlhabende Region
Der Wohlstand ist indes zum grössten Teil Technologien zu verdanken, die dem alten Medium Tageszeitung den Garaus machen könnten. Google und Yahoo, Apple und Cisco, Oracle und Sun Microsystems sind im Silicon Valley beheimatet. Mehr als sieben Millionen Menschen leben in der Region, fast so viele wie in der Schweiz – auf einer Fläche, die etwa halb so gross ist. Doch während sich die Schweiz weiterhin durch eine einzigartige Zeitungsvielfalt auszeichnet, sind in der Bay Area die beiden bedeutendsten Titel in existenzielle Bedrängnis geraten.
Vor ein paar Jahren noch sprudelten die Gewinne kräftig. Jetzt dagegen stimmt Paul Farhi, der für die «Washington Post» und die «American Journalism Review» die Medienwelt beobachtet, den «San Francisco News Blues» an: «Es ist unwahrscheinlich, dass irgendeine Grossstadt-Zeitung im Lande tiefer und schneller abgestürzt ist als die San Jose Mercury News und der San Francisco Chronicle seit dem Gipfelpunkt des Dotcom-Booms vor sieben Jahren.»
30 Prozent Auflagenverlust
In Zahlen ausgedrückt: Der Chronicle hat in den letzten vier Jahren 30 Prozent seiner Auflage verloren – derzeit werden täglich rund 370 000 Exemplare verkauft. Im Jahr 2000 waren 575 Mitarbeiter in der Redaktion beschäftigt, jetzt sind es noch 280, also weniger als die Hälfte. Allein im Jahr 2007 wurden 100 Journalisten entlassen, und im August 2008 kündigte der Verlag für weitere 125 Mitarbeiter eine Buyout-Offerte an. Wie die meisten US-Grossstadt-Zeitungen hat der Chronicle keinen einzigen Auslandskorrespondenten mehr. Auf seiner Titelseite präsentiert er ohnehin fast nur noch Lokalnachrichten. Auf den folgenden Seiten des ersten Bundes finden sich fast ausschliesslich Beiträge der Nachrichtenagentur AP und der Nachrichtendienste der drei grossen Blätter New York Times, Washington Post und Los Angeles Times.
Warum hat sich in San Francisco nie eine Zeitungskultur entwickeln können wie in New York, Los Angeles oder Washington? Jahrzehntelang gab es ein sogenanntes Joint Operating Agreement, das die Weiterentwicklung der beiden Zeitungen vor Ort blockierte. 1965 hatten die Wettbewerber San Francisco Examiner und San Francisco Chronicle vereinbart, die geschäftliche Seite gemeinsam zu betreiben und nur die Redaktionen miteinander konkurrieren zu lassen. 35 Jahre lang wurden so die Gewinne beider Tageszeitungen 50 zu 50 geteilt. «Das war für keine der beiden Zeitungen hilfreich. Maximale Qualität war sicher nicht das Ergebnis», sagt Phil Bronstein im Rückblick. Keiner kann das besser beurteilen als er: Zunächst war er Chefredaktor des Examiner, dann wechselte er in derselben Funktion von 2003 bis Anfang 2008 zum Chronicle. Heute ist er dort als Editor at Large tätig und kümmert sich unter anderem um investigative Sonderprojekte.
Ein unseliger Vertrag
Mit dem Ende des unseligen Vertrags und mit einem nahezu zeitgleichen Besitzerwechsel waren grosse Hoffnungen verknüpft. Zur Jahrtausendwende hatte Hearst den «Chronicle» erworben. Ein «world class newspaper» sollte aus der Zeitung werden. Hearst wurde jedoch von Beginn an auf eine harte Probe gestellt. Ein teurer und langwieriger Rechtsstreit stellte die Übernahme in Frage. In einem unseligen Tarifvertrag hatte der Medienkonzern, dem zu diesem Zeitpunkt auch der San Francisco Examiner gehörte, den Gewerkschaften zugesagt, alle Mitarbeiter beider Zeitungen weiter zu beschäftigen. Dann wurde der Examiner verkauft und in ein Gratisblatt umgewandelt – aber Hearst musste einen Grossteil der Redaktoren übernehmen. Zeitweise waren so beim Chronicle viele Funktionen doppelt und dreifach besetzt. «Es war eine Achterbahnfahrt», sagt Bronstein.
Hinzugekommen sei der «shake-up» auf den Zeitungsmärkten. Statt sprudelnder Gewinne begannen sich mit dem Ende des Dotcom-Booms Verluste aufzutürmen: wöchentlich eine Million Dollar und mehr, schätzen Experten – aber diese Zahl wird nicht offiziell bestätigt. «Die Bay Area ist eine sehr innovative Region», sagt Bronstein. Technische Neuerungen schlügen hier «stärker und schneller» durch – soll heissen: Internet und Web 2.0. Dass der Chronicle von Regionalgazetten umzingelt ist, die alle ein und demselben Medienkonzern, der Media News Group, gehören, habe dagegen auf das redaktionelle Tagesgeschäft wenig Einfluss. «Das ist eher ein Problem für unsere Anzeigenabteilung», sagt Bronstein. Sie müsse sich dieser Übermacht stellen. Womit er freilich unterschlägt, dass miserable Anzeigenerlöse sehr unmittelbare Rückwirkungen auf das Redaktionsbudget haben.
Stadt- oder Agglomerations-Zeitung?
Wer die Zeitung durchblättert, gewinnt spätestens bei dem Bund, der sich mit der Bay Area befasst, den Eindruck von Unentschlossenheit: Will der Chronicle eher das Blatt der Kernstadt San Francisco oder der Region sein? Präsentiert wird ein Gemischtwarenladen – Meldungen aus Stadt und Region, bunt durcheinandergewirbelt. Cynthia Gorney, Professorin an der Journalism School in Berkeley, erkennt brillante Einzelleistungen, «zum Beispiel in der Berichterstattung über Obdachlose oder religiöse Themen». Aber sie bemängelt, es sei «keine Strategie erkennbar».
Der frühere Managing Editor des Chronicle, Robert Rosenthal, sagt, die Zeitung sei in ihrer Qualität unberechenbar und unausgeglichen. Er ist inzwischen ebenfalls an der Universität in Berkeley untergeschlüpft und leitet dort das Center for Investigative Reporting. Der Chronicle «leistet gute Arbeit», anerkennt er, aber bei allem, was über San Francisco hinausgehe, fehle es inzwischen an Breite und Tiefgang. So habe die Zeitung vor ein paar Jahren noch fünf Reporter in Sacramento gehabt, um die kalifornische Politik zu begleiten. Jetzt seien es nur noch «ein oder zwei». Wenn Korrespondentenbüros oder ganze Redaktionen innerhalb weniger Jahre auf die Hälfte zusammenschrumpften, gehe «institutionelles Gedächtnis» verloren; es entstünden zwangsläufig Lücken in der Berichterstattung.
Rosenthals Urteil lässt auch Bronstein gelten: San Francisco sei auch als Örtlichkeit «unberechenbar», und eine Zeitung müsse geradezu «unvorhersehbar» sein, schliesslich komme es darauf an, die Leute zu überraschen. «Wir haben vieles ausprobiert. Manches funktioniert, manches nicht. Eine Zeitung muss experimentieren.» Bronstein betont, dass die geschrumpfte Redaktion weiterhin ihre Wachhund-Rolle ausfülle. Der Bürgermeister von San Francisco, Gavin Newsom, beschwere sich darüber, dass der Chronicle «zu aggressiv» recherchiere. In der Tat hatte das Blatt kurz vor dem Interview einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, weil es herausgefunden hatte, dass die Stadt minderjährige, illegal eingewanderte Drogendealer und Kriminelle davor «beschütze», in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden. Seine neue Position erlaubt es Bronstein, sich um investigative Projekte zu kümmern, an denen mehrere der zwölf zum Hearst-Konzern gehörigen Zeitungen beteiligt sind. Immerhin: Synergieeffekte, die den Journalismus stärken könnten.
Der Absturz der «Mercury News»
Noch drastischer ist der Absturz der San Jose Mercury News (Auflage: 235 000). Das einstige stolze Flaggschiff des zweitgrössten US-Zeitungskonzerns, Knight-Ridder, ist zwar nicht mit dem Stammhaus untergegangen. Zwei Eigentümerwechsel haben aber dazu beigetragen, dass die aufstrebende Regionalzeitung, die von Experten noch zur Jahrtausendwende zu den Top Ten in Amerika gezählt wurde, zur billigen Lokalgazette, ja gelegentlich zum Revolverblättchen verkommen ist. Erst wurde unter dem Druck von Investoren Knight-Ridder für 4,5 Milliarden Dollar vom kleineren, ebenfalls börsennotierten Wettbewerber McClatchy geschluckt, dann hat der neue Eigentümer sogleich 12 der 32 neu erworbenen Blätter weiterverkauft.
So landeten die San Jose Mercury News bei der Medianews-Gruppe, zusammen mit fast allen weiteren Gazetten in der Bay Area ausserhalb der Kernstadt San Francisco – eine Konstellation, die bei den neuen Eigentümern trügerische Hoffnungen auf phantastische Synergiegewinne nährte. Darüber hinaus hat Dean Singleton, der CEO von Medianews, von Anfang an eine «klare Entscheidung getroffen: die Gewinne seiner Zeitungen so hoch wie möglich zu halten», so John McManus, ein Branchenexperte, der mit GradetheNews jahrelang ein Projekt betrieb, das die Medien der Region im Blick auf ihre journalistische Leistung evaluierte.
Veränderte Wettbewerbsbedingungen
Laut Branchenanalytikern hat die Umsatzrendite im Jahr 2000 über 30 Prozent gelegen. Doch Singletons Investition wird zum Lehrstück, wie sich angesichts veränderter Wettbewerbsbedingungen auch gut aufgestellte Blätter ruinieren lassen, wenn Eigentümer mit wenig Einfühlungsvermögen allzu hochgeschraubten und kurzsichtigen Gewinnerwartungen hinterherjagen.
Dabei herrschte vor wenigen Jahren noch Aufbruchstimmung. Als Dan Gillmor 1994 in der Redaktion als Technologie-Reporter zu arbeiten begann, fühlte er sich «im Bauch des Ungeheuers» angekommen: Der digitale Goldrausch im Silicon Valley war voll im Gang. Seine Zeitung war Teil der Erfolgsgeschichte, sie galt als Geheimtipp, wenn Brancheninsider wissen wollten, wie die Zeitungszukunft und die Zukunftszeitung wohl aussehen würden.
Die Redaktion wuchs. Man leistete sich gar einen Auslandskorrespondenten. Nicht etwa in London oder Rio oder Peking – nein, in Hanoi, um die grosse Zahl vietnamesischer Einwanderer mit Nachrichten aus ihrer Heimat zu versorgen. Um möglichst alle zu erreichen, wurde eine spanische und eine vietnamesische Ausgabe gestartet. Die beste Zeitung in der Bay Area erscheine nicht mehr in der Metropole selbst, sondern in der Nachbarstadt San Jose – eben im Herzen des Silicon Valley –, so die Einschätzung vieler Medienexperten kurz vor der Jahrtausendwende. Das Blatt wollte auch nach San Francisco vordringen und eröffnete am Union Square ein Büro. Es wurden also ähnliche Fehler begangen wie in Deutschland, als sich die Süddeutsche Zeitung nach Nordrhein-Westfalen und Die Welt nach Bayern auszudehnen versuchte.
Schmalkost
Wie die Mercury News heute aussehen, ist schnell erzählt: Inhaltlich wird Schmalkost verabreicht. Angeblich bekommen die Leser, was sie wollen – als schrumpften deren Hirne ob der bunten Bilderorgien, welche die Zeitungsseiten ebenso wie die Website prägen. Sex and Crime, Lokales und Banales haben die grossen Themen verdrängt. Das Korrespondentenbüro in Vietnam ist geschlossen, auch aus San Francisco hat sich das Blatt längst zurückgezogen. In der Redaktion, in der zu den besten Zeiten über 400 Journalisten arbeiteten, sind heute noch 170 tätig. Gemessen an europäischen Standards, ist das immer noch eine stattliche Zahl – aber es ergibt wenig Sinn, solche Vergleiche anzustellen, denn letztlich ist es der rigide Rückschnitt, der eine Redaktion ausbluten lässt.
Theodore Glasser, Journalismusprofessor an der Stanford University, findet die Zeitung «grässlich». Seine Kollegin Dawn Garcia, die früher selbst einmal als leitende Redaktorin bei den Mercury News gearbeitet hat, überlegt sich, ob sie das Blatt nicht abbestellen soll – eigentlich sei es überflüssig geworden. Aber ganz so weit ist es noch nicht: «Ich bin hier aufgewachsen. Und ich lese die Nachrufe!», sagt sie mit schwarzem Humor. Und: «Das Beste ist inzwischen die Heim-und-Garten-Beilage.»