Digitale Diaspora am Fallbeispiel Afghanistan-Communities in Deutschland

9. Juli 2025 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

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Am Beispiel der Afghanistan-Diaspora(s) in Deutschland untersucht der Beitrag exemplarisch, wie diasporische Öffentlichkeiten im digitalen Raum entstehen. Zwischen politischer Artikulation, kultureller Selbstvergewisserung und medialer Fragmentierung entfalten sich neue Formen transnationaler Kommunikation jenseits klassischer Medien und bislang kaum erforscht.

Deutschland aus einer postmigrantischen Perspektive

Deutschlands Gegenwart ist geprägt von Vielfalt. Rund 25,2 Millionen Menschen haben laut Mikrozensus 2024 eine Einwanderungsgeschichte. Das sind 30,4 Prozent der Bevölkerung (Statistisches Bundesamt, 2024). Diese Gruppe umfasst Menschen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit, mit oder ohne eigene Migrationserfahrung. Auch sprachlich zeigt sich die Pluralität: Über die Hälfte spricht neben Deutsch mindestens eine weitere Sprache (Statistisches Bundesamt, 2024). Besonders sichtbar wird diese Vielfalt in Städten wie Frankfurt am Main (42,9 %), Bremen (45,1 %), Berlin (40,6 %), Hamburg (40,6 %) oder Leipzig (16,2 %) (Statistisches Bundesamt, 2024). Dort entwickeln sich diasporische Gemeinschaften, die das kulturelle und mediale Leben mitprägen. Digitale Öffentlichkeiten spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie schaffen Räume für Selbstrepräsentation, Austausch und politische Artikulation, oft jenseits klassischer Medienformate und entlang transnationaler Erfahrungen (Hamidi, Donges 2025). In ihnen werden Fragen von Zugehörigkeit, Erinnerung und Identität kollektiv verhandelt. Trotz ihrer Relevanz ist über diese Räume wenig bekannt. Wer gestaltet sie? Welche Themen stehen im Fokus? Dieser Beitrag untersucht exemplarisch die digitalen Öffentlichkeiten der Afghanistan-Diaspora in Deutschland und fragt nach ihren Kommunikations-formen und gesellschaftlichen Wirkungen.

Afghanistan ist hier – wie eine Diaspora ihre Öffentlichkeit schafft

Die Afghanistan- Diasporas[1] in Deutschland zählen heute rund eine halbe Million Menschen (SVR, 2024; Pro Asyl, 2025). Ihre Migrationsgeschichten reichen bis in die 1970er Jahre zurück. Sie umfassen Arbeitsmigration ebenso wie Fluchtbewegungen aus Kriegs- und Krisengebieten infolge von Verfolgung und fehlender Sicherheit sowie Migration aufgrund mangelnder Bildungsmöglichkeiten oder des Wunsches nach einem politischen Neuanfang. Die Communities sind durch eine hohe ethnische, sprachliche und soziale Diversität gekennzeichnet. Ihr gehören unter anderem Hazara, Paschtunen, Tadschiken und Usbeken an, die Farsi, Paschtu oder Usbekisch sprechen. Trotz ihrer langen Geschichte und gesellschaftlichen Präsenz bleiben die Afghanistan-Diasporas in deutschen Medien weitgehend unsichtbar. Ihre Stimmen kommen kaum zu Wort und ihre Perspektiven finden selten Platz in der öffentlichen Debatte. Das Danish Refugee Council (2019) und International IDEA (2018) belegen, dass Afghanistan-Communities strukturell marginalisiert bleiben – selbst dort, wo sie aktiv zivilgesellschaftlich organisiert sind.

Doch gerade aus dieser Erfahrung der Unsichtbarkeit heraus sind in den letzten Jahren neue Medien- und Kommunikationsplattformen entstanden, die Räume für Selbstrepräsentation, Austausch, Erinnerung und Kritik eröffnen, kurz: für diasporische Öffentlichkeit (Appadurai, 1996). Dabei ist ein doppelter Prozess zu beobachten: Einerseits bleiben Afghanistan und die dortigen Entwicklungen zentrale Bezugspunkte. Andererseits entstehen neue Kommunikationsräume, die in Deutschland lokal verankert, aber zugleich global vernetzt sind. Digitale Kommunikationsräume übernehmen in diesem Zusammenhang eine zentrale Vermittlungsfunktion, indem sie biografische Erfahrungen, soziale Vernetzungen und politische Anliegen in hybriden Öffentlichkeiten bündeln, die sich zwischen Herkunfts- und Aufnahmekontexten sowie zwischen individueller Erinnerung und kollektiver Aushandlung verorten lassen. So entsteht eine transnationale „diasporic public sphere“ (Appadurai, 1996), in der sich neue Formen von Zugehörigkeit, Identifikation und politischem Ausdruck entwickeln. Sie entwickeln gemeinsam eine neue Form von Öffentlichkeit, abseits der klassischen und etablierten Medien und abseits von einfachen Schubladen. Öffentlichkeit bedeutet hier nicht nur das, was in Zeitung, Radio oder Fernsehen passiert, sondern auch das, was online und in Communities entsteht: Räume, in denen Menschen gehört werden, ihre Erfahrungen teilen und miteinander diskutieren.

Zwischen Kabul und Berlin: Eine transnationale Öffentlichkeit entsteht

Die kommunikative und mediale Landschaft der Afghanistan-Diasporas in Deutschland ist ebenso vielfältig wie dynamisch. Sie ist vielschichtig organisiert – zwischen professionellem Journalismus und individualisierter Plattformkommunikation. Dabei verschwimmen zunehmend die Grenzen zwischen journalistischen Akteurinnen und Akteuren, politischen Aktivist:innen, religiösen Influencer:innen und alltäglichen Nutzer:innen sozialer Medien:

Zunächst sind klassisch redaktionell organisierte Medienplattformen zu nennen, die global agieren und deren Inhalte sowohl innerhalb der rund acht Millionen ((IOM, 2021, S. 6; UNDP, 2022, S. 3) umfassenden globalen Afghanistan-Diaspora als auch in Deutschland rezipiert werden. Klassische Diaspora-Medien wie Afghanistan International, Amu TV oder Oxus TV liefern tagesaktuelle Nachrichten, Hintergrundanalysen und politische Kommentare. Es sind journalistische Medienplattformen mit professionellem Personal, Journalist:innen, Korrespondent:innen und Studios. Ihr Programm richtet sich an ein transnationales Publikum, das sich sowohl für die politischen Entwicklungen in Afghanistan als auch für die diversen diasporischen Perspektiven interessiert. Auch wenn viele dieser Medienakteure ihren Sitz in den USA, Großbritannien oder Österreich haben, werden ihre Inhalte weltweit rezipiert, insbesondere innerhalb der globalen Afghanistan-Diaspora und so auch in Deutschland. In mehreren deutschen Städten sind Korrespondent:innen unterwegs, die vor Ort berichten und Stimmen aus der Diaspora in die mediale Öffentlichkeit in Deutschland tragen. So berichtet Afghanistan International regelmäßig über Veranstaltungen, Proteste und Initiativen innerhalb der Afghanistan-Diaspora, insbesondere in Deutschland.

Doch neben den etablierten, professionell redaktionell gesteuerten Medienangeboten gewinnen zunehmend soziale Medienplattformen wie YouTube, Instagram, Facebook und TikTok an Bedeutung. Insbesondere jüngere Generationen nutzen diese Plattformen, um eigene Öffentlichkeiten zu schaffen und ihre Perspektiven in diasporische Diskurse einzubringen. Dabei erzielen einige Akteurinnen und Akteure teils erhebliche Reichweiten und fungieren als digitale „Massenkommunikator:innen“, die eigene Öffentlichkeiten schaffen. Zur analytischen Einordnung lässt sich diese heterogene Gruppe in verschiedene Typen unterteilen. In der praktischen Umsetzung erweisen sich diese Rollen jedoch als dynamisch und nicht strikt trennbar: Viele Akteurinnen und Akteure wechseln situativ zwischen unterschiedlichen Typen, wobei Plattformlogiken, Themenzyklen sowie die jeweilige öffentliche Resonanz eine entscheidende Rolle spielen. Alle diese Typen entwickeln eigene Inhalte, die sie plattformübergreifend verbreiten. Während verschiedene soziale Medien wie YouTube, Instagram und Facebook von den Akteurinnen und Akteuren genutzt werden, sind sie besonders auf der Plattform TikTok aktiv. TikTok begünstigt aufgrund seines algorithmusgesteuerten Aufbaus, der Fokussierung auf kurze Videoformate und der niedrigschwelligen Interaktionsmöglichkeiten eine schnelle Sichtbarkeit, insbesondere bei einem jungen diasporischen Publikum.

  • – Die Vermittler:innen: Vertreter:innen dieses Typs, etwa Khushal Asefi, Ghassem oder Abbas produzieren politische und gesellschaftliche Inhalte[2]. Asefi setzt dabei auf Gesprächsformate mit öffentlichen Persönlichkeiten wie Politiker:innen, Ärzt:innen oder Künstler:innen aus der Afghanistan Diaspora und der Mehrheitsgesellschaft. Ghassem hingegen führt informelle Straßengespräche, vor allem mit Jugendlichen der Afghanistan Diaspora, über deren Alltag und Lebensrealitäten in Deutschland. Die Vermittler:innen bemühen sich eine Brücke zwischen den Diasporas und der Mehrheitsgesellschaft zu sein und verfolgen zugleich das Ziel, den Dialog zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen zu fördern (Hazara, Paschtunen, Tadschiken und Usbeken). Die Inhalte sind sachlich, dialogorientiert und integrationsfördernd. Thematisch stehen politische Aufklärung, gesellschaftliche Teilhabe und konstruktive Diskussionskultur im Vordergrund.
  • Die Aufklärer:innen: Dieser Typ nutzt persönliche Narrative, um Wissen zu Alltag, Kultur, Bildung und Geschlechterrollen niedrigschwellig zu vermitteln, wie sie auch Lemar Omari oder Sharmila Hashimi (u.a.) in ihren mehrsprachigen und zielgruppenorientierten Bildungs-formaten auf YouTube und Instagram einsetzen. Die Beiträge sind emotional aufbereitet und richten sich vorrangig an ein junges Publikum. Die Aufklärer:innen zielen darauf ab, durch Identifikation, Sichtbarkeit und lebensnahe Inhalte individuelle Stärkung und gesellschaftliches Bewusstsein zu fördern. Dabei stehen insbesondere Frauenrechte und Migrationserfahrungen im Fokus. Darüber hinaus bieten sie Unterstützungsangebote, etwa Deutschkurse oder alltagsnahe Orientierungshilfen an (Lemar Omari).
  • Die Provokateur:innen (z. B. Ahmad Farid Froutan oder Nastoh Naderi): Der Typus der Provokateur:innen setzt gezielt auf Polarisierung und Zuspitzung, etwa entlang ethnischer, politischer oder ideologischer Linien. Ihre Beiträge sind affektgeladen, konfrontativ und darauf ausgerichtet, Aufmerksamkeit zu erzeugen und Debatten zu initiieren. Die Tonalität der Akteurinnen und Akteure und ihrer Beiträge ist häufig konfliktorientiert und nicht selten populistisch und aggressiv. Weitere Beispiele sind die Kanäle von Sikander oder Mahfuz Saidi (u. a.), die in sozialen Medien regelmäßig polarisierende Aussagen zu ethnopolitischen Spannungen oder diasporischen Konflikten veröffentlichen.
  • Die Tabubrecher:innen: Farida, Mira und Palangi  stehen exemplarisch für eine neue Generation von Influencer:innen, die intime, kulturell codierte Themen wie Sexualität, Körperpolitik oder traditionelle Geschlechterrollen aus einer selbstbewussten, diasporischen Perspektive öffentlich verhandeln. Ihre Inhalte sind bewusst provokant und dialogisch aufgebaut. Dabei geht es nicht nur um Sichtbarkeit, sondern um eine aktive Infragestellung patriarchaler Normen, die sowohl in Afghanistan als auch in dessen Diaspora-Gemeinschaften fortwirken.
  • -Die Propagandist:innen: Dieser Typ verbreitet gezielt Inhalte, die mit der politischen Agenda der Taliban übereinstimmen. Ziel ist es, die Taliban positiv darzustellen und diasporische Debatten zu beeinflussen (Khurasani 2025). Dieser Typ bedient sich dabei koordinierter Hashtag-Kampagnen, ideologisch aufgeladener Narrative und teilweise automatisierter Verbreitungsstrategien. Auffällig ist dabei die zunehmend professionelle Gestaltung der Inhalte, von Videoclips über Hashtag-Kampagnen bis hin zu mehrsprachigen Botschaften. Besonders häufig adressiert dieser Typus junge Menschen in der Diaspora, denen durch eine scheinbar moderne und populärkulturell codierte Ansprache eine vermeintlich Identitäts- und Orientierungsstruktur angeboten wird.
  • Die Missionar:innen: (z.B. Online-Mullahs, islamische Influencer:innen): Dieser Typus nutzt soziale Medien, um religiöse Inhalte zu verbreiten, oft mit einem missionarischen Anspruch. Ihr Kommunikationsstil ist lehrhaft, autoritativ und stark normierend. Die Inhalte reichen von religiösen Erläuterungen, moralischen Appellen und Alltagstipps bis hin zu gezielter Kritik an westlichen Lebensstilen, die als “verderbend” für die Jugend dargestellt werden. Sie richten sich vor allem an junge Menschen in der Diaspora, die aus ihrer Sicht besonders gefährdet sind, den religiösen und kulturellen Bezug zu verlieren. Die Akteurinnen und Akteure sind häufig religiöse Autoritäten oder sprechen im Namen eines konservativen Islams, der sich auf klassische Lehrtraditionen stützt. Interessant ist es, dass viele der Missionar:innen von Afghanistan aus agieren, ihre Inhalte jedoch vor allem in Deutschland und Europa viel Beachtung erhalten. Beispiele sind Kanäle wie Ahmad Shahram Wafaee, Abdul samad Qazizada, Kokcha TV oder Farina Khalil, deren Beiträge insbesondere innerhalb der Afghanistan-Diaspora in Deutschland und darüber hinaus breite Resonanz finden.
  • – Die Entertainer:innen (z. B. das Paar Hilaamasi, Familie Jafari oder Keshmesh): Dieser Typus konzentriert sich auf lebensnahe, oft humorvolle Inhalte aus dem diasporischen Alltag, vom Kochen über Hochzeiten bis hin zu familiären Szenen, Erziehungsthemen oder kulturellen Ritualen. Im Mittelpunkt steht dabei eine eher unpolitische Vermittlung von Normalität, Vertrautheit und Zugehörigkeit. Es werden Szenen aus dem Alltag, beim Kochen, beim gemeinsamen Essen, auf Hochzeiten oder beim Aufräumen nach der Schule gezeigt, die eine intime Nähe der Influencer:innen zu ihren Followern schaffen und den Alltag in der Diaspora erzählen. Diese Inhalte bieten vielen Nutzer:innen einen Raum des Eskapismus: einen digitalen Ort, an dem Afghanistan nicht über Krieg und Krise definiert wird, sondern über Familie, Rituale, Kochen (z.B. Keshmesh), Humor und kulturelle Kontinuitäten. In einer Zeit, in der viele Verbindungen zum Herkunftsland politisch belastet oder unterbrochen sind, dienen solche Formate als emotionale Anker. Sie ermöglichen ein nostalgisches Wiedererkennen ebenso wie eine Form der kulturellen Selbstvergewisserung. Es entsteht eine informelle Öffentlichkeit, die weniger durch Diskurs und Kontroverse als vielmehr durch Alltagsästhetik, geteilte Erfahrungen und affektive Nähe geprägt ist und somit einen Gegenentwurf zur häufig konflikthaft verlaufenden politischen Kommunikation in anderen diasporischen Medienräumen darstellt.
  • – Die Alltagslots:innen / Ratgeber:innen: Vertreter:innen dieses Typs bieten praxisnahe Unterstützung zu zentralen Fragen des Lebens in der Diaspora, etwa Gesundheit, Wohnen, Arbeit, Finanzen oder Alltagsorganisation. Es handelt sich um Ärzt:innen (Hasseb Furmolly), die medizinische Tipps geben, Makler:innen, die über den Hauskauf beraten, oder Einzelpersonen, die bei Behördenfragen, Bildungswegen oder der Jobsuche Orientierung bieten. Daneben bieten sie auch Unterstützung in Bereichen wie Bildung, Familienrecht, Behördenkommunikation oder digitalen Kompetenzen. Gerade bei komplexen Anträgen oder institutionellen Schnittstellen (z. B. Schule, Amt, Arztpraxis) leisten sie wichtige Übersetzungsarbeit. Die Inhalte sind sachlich, zugänglich und lösungsorientiert, oft in der jeweiligen Herkunftssprache produziert, um auch weniger sprachaffine Gruppen zu erreichen. Ziel ist es, Informationslücken zu schließen, bürokratische Hürden zu erklären und den Alltag in Deutschland verständlich zu machen.
  • Die Aktivist:innen: Vertreter:innen dieses Typs, etwa Zarmina Paryani, Tamana Paryani oder der Künstler und Songwriter Shekib Mosadeq agieren politisch motiviert, meist offline wie online. Sie organisieren Demonstrationen, Podiumsdiskussionen und kulturelle Veranstaltungen, die sich gegen das Taliban-Regime, gegen die internationale Anerkennung desselben sowie gegen die Genderapartheid in Afghanistan seit 2021 richten. Thematisch stehen Frauenrechte, politische Freiheitsrechte, Bildungsgerechtigkeit und internationale Solidarität im Zentrum. Diese Akteur:innen nutzen soziale Medien zur Mobilisierung, Sichtbarmachung und Dokumentation, etwa durch Live-Streams, Hashtag-Kampagnen oder Veranstaltungs-ankündigungen. Ihr Engagement ist stark von einer menschenrechtlichen Perspektive geprägt und zielt darauf ab, öffentlich Druck auf politische Entscheidungsträger:innen auszuüben. Die Aktivist:innen fungieren zugleich als moralische Stimmen der Diaspora und als transnationale Brückenakteure, die die Anliegen von Menschen in Afghanistan mit der Zivilgesellschaft in Deutschland und Europa verbinden.

Monetarisierung als Handlungsprinzip im digitalen Raum

Im Unterschied zu klassischen Diaspora-Medien, in denen Monetarisierung über z. B. Werbung, Fördermittel oder institutionelle Trägerschaften strukturell eingebettet ist, stellt sie für viele digitale Einzelakteurinnen und -akteure eine persönliche und zentrale Motivation dar. Reichweite, Sichtbarkeit und Community-Bindung werden gezielt als ökonomisches Kapital eingesetzt, etwa durch Plattformvergütung, Sponsoring oder Produktplatzierungen. Die mediale Präsenz wird zur Einkommensquelle, was potenziell Einfluss auf die Auswahl von Themen, die Gestaltung medialer Formate sowie den Kommunikationsstil der Akteurinnen und Akteure nimmt. In diesem Kontext greifen manche Personen zu besonders auffälligen Strategien, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Provokante, emotionalisierende oder konfliktbetonte Inhalte steigern die algorithmische Sichtbarkeit und fördern die Bindung an bestimmte Zielgruppen. Häufig sind diese Strategien mit normativen oder radikalisierenden Botschaften verknüpft, die bewusst vereinfachen, zuspitzen oder provozieren. Damit tragen sie zur Polarisierung bei und können bestehende Spannungen innerhalb diasporischer Öffentlichkeiten verstärken oder neue Fragmentierungen erzeugen.

 Organisierte Öffentlichkeiten: Zwischen Vereinsstruktur und aktivistischen Netzwerken

Kommunikation in den Afghanistan-Diasporas findet nicht nur über Medienhäuser und Einzelpersonen statt, auch zivilgesellschaftliche Organisationen wie Verbände und Vereine tragen wesentlich zur öffentlichen Artikulation diasporischer Perspektiven bei. Formalisierte Organisationen wie der Verband Afghanischer Organisationen in Deutschland (VAFO e. V.), vernetzen rund 15 zivilgesellschaftliche Organisationen und Netzwerke. Neben ihrer Funktion als Interessenvertretung, z. B. mit Stellungnahmen zur Asyl- oder Frauenrechtspolitik, organisiert der Verband online und offline Dialogformate, bei denen sich Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft austauschen können. Die Social-Media-Kanäle des Netzwerks vermitteln politische Bildung, Aufklärung über Fluchtursachen und berichten über kulturelle Aktivitäten innerhalb der Afghanistan-Diasporas. Ein weiteres Beispiel für eine institutionell strukturierte Initiative ist Bee4Change e. V. in Hamburg. Der Verein verbindet Community-Arbeit mit Programmen wie HamWatan, die sich an Jugendliche und Menschen mit Afghanistan-Bezug richten und Bildungsarbeit (Mentoring, Empowerment-Workshops) sowie Medienprodukte (Podcasts) anbieten. Die Medien werden dabei nicht nur zur Herstellung von mehr Sichtbarkeit, sondern auch zur Stärkung interner diasporischer Strukturen genutzt. Ein weiteres Beispiel ist das Afghanistan-Komitee e. V. in Berlin, das kulturelle Veranstaltungen, politische Diskussionsformate und Dialogveranstaltungen organisiert. Ziel des Komitees ist es, migrantische Selbstvertretung mit entwicklungspolitischem Engagement zu verbinden, indem es an der Schnittstelle von Kultur, Bildung und Advocacy, oft in Kooperation mit Berliner Institutionen und Afghanistan-Communities, arbeitet. Nicht-formalisierte Initiativen ergänzen diese Landschaft durch eine dynamische, oft niedrigschwellig agierende Praxis. Ein Beispiel ist das AFGactivistCollective Berlin, ein informeller Zusammenschluss junger Aktivist:innen mit Afghanistan-Bezug. Die Gruppe organisiert Demonstrationen, Kampagnen, Kunstaktionen und öffentliche Veranstaltungen und nutzt ihren Instagram-Kanal mit rund 5000 Follower:innen, um eine eigene digitale Öffentlichkeit zu schaffen. Dabei kombinieren sie digitales Storytelling mit politischer Praxis. Ein weiteres Beispiel ist das transnationale Netzwerk soli.daritynetwork auf Instagram. Gegründet nach der Machtübernahme der Taliban, setzt es sich für Frauenrechte in Afghanistan ein. Die Gruppe dokumentiert Menschenrechtsverletzungen, organisiert Proteste und betreibt Bildungsarbeit. Ihr Anspruch umfasst Recherche, Analyse, Kritik und Sichtbarmachung, stets mit dem Ziel, internationale Aufmerksamkeit auf die Situation von Frauen in Afghanistan zu lenken und eine digitale Solidaritätsöffentlichkeit zu schaffen.

 Herausforderungen und Perspektiven

Die Kommunikationslandschaft der Diaspora aus Afghanistan ist komplex und in ständiger Bewegung. Viele Formate fördern politische Aufklärung, soziale Teilhabe und kollektive Selbstvergewisserung. Gleichzeitig gibt es kommunikative Räume, in denen konservative, religiös geprägte oder radikalisierende Inhalte dominieren, häufig mit einem besonderen Fokus auf junge Zielgruppen. Diasporische Öffentlichkeiten sind daher nicht nur Orte des Austauschs, sondern auch Bühnen für gesellschaftliche Aushandlungen über Zugehörigkeit, Werte und Deutungshoheiten. Ihre Analyse erfordert eine differenzierte Perspektive, die sowohl Potenziale als auch Risiken erkennt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Öffentlichkeiten und ihren digitalen Kommunikationspraktiken steht in Deutschland noch am Anfang. Zahlreiche Plattformen und Akteurinnen und Akteure entziehen sich bislang der öffentlichen Wahrnehmung, der wissenschaftlichen Forschung und der politischen Regulierung, nicht aufgrund bewusster Abgrenzung, sondern weil ihre Reichweite und Wirkung bislang nur unzureichend erfasst wurden. In diesen semiprofessionellen und häufig informellen Öffentlichkeiten zeigt sich eine doppelte Dynamik: Einerseits schaffen sie Räume für Selbstermächtigung, politische Artikulation und soziale Vernetzung. Andererseits eröffnen sie auch Möglichkeiten zur Verbreitung problematischer Inhalte wie Falschinformationen, Verschwörungserzählungen, Hassrede oder ideologisch zugespitzte Narrative. Dies geschieht häufig unter Bedingungen begrenzter redaktioneller Kontrolle und fehlender journalistischer Standards. Die mangelnde Anbindung an medienpolitische und zivilgesellschaftliche Infrastrukturen erschwert eine gezielte Förderung und birgt Risiken für gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Diskurse. Eine systematische wissenschaftliche Untersuchung ist daher unerlässlich. Diese sollte die emanzipatorischen Potenziale ebenso wie die Herausforderungen im Hinblick auf Fragmentierung, Exklusion und Desinformation erfassen. Die hier skizzierten Beobachtungen zur Diaspora aus Afghanistan können als Ausgangspunkt für vergleichende Analysen weiterer Communities dienen, etwa aus Syrien, Iran, Eritrea oder der Türkei. Doch auch Diasporas aus Venezuela, Mexiko, China, der jüdischen Community oder kurdische Gruppen wären vergleichbar, schließlich sind all diese Communities in Deutschland präsent. Auch dort entstehen digitale Öffentlichkeiten, die bislang kaum erforscht, selten reguliert und nur in wenigen Fällen öffentlich gefördert werden. Die Kommunikationswissenschaft steht vor der Aufgabe, diese Öffentlichkeiten theoretisch zu konzeptualisieren und empirisch zu erfassen, als eigenständige Arenen sozialer Aushandlung, Repräsentation und Kritik. Dabei gilt es, transnationale Strukturen, digitale Infrastrukturen und intersektionale Dynamiken ebenso zu berücksichtigen wie die Handlungsmacht der beteiligten Akteurinnen und Akteure. Angesichts des sinkenden Vertrauens in etablierte Medienangebote (vgl. Reuters Institute Digital News Report, 2024) und der zunehmenden Fragmentierung öffentlicher Kommunikation ist dies kein Nebenschauplatz, sondern eine zentrale Herausforderung pluraler Gesellschaften. Wer diesen Räumen keine Aufmerksamkeit schenkt, überlässt sie jenen, die ihre Reichweite strategisch für eigene Zwecke nutzen.

 

[1]Im vorliegenden Beitrag wird bewusst der Plural Afghanistan-Diasporas bzw. Afghanistan-Communities verwendet, um der sozialen, ethnischen, sprachlichen, religiösen und politischen Heterogenität innerhalb der Migrationserfahrungen und diasporischen Öffentlichkeiten Rechnung zu tragen. Der Singular Diaspora oder Community suggeriert fälschlich eine homogene Gruppe mit einheitlichen Interessen und Identitäten, während die Realität durch Differenz, Pluralität und teils auch Konfliktlinien geprägt ist (vgl. Brubaker 2005; Anthias 1998). Wo im Text aus stilistischen Gründen der Singular Diaspora erscheint, sind dennoch stets die pluralen Afghanistan-Diasporas gemeint.

[2] Alle genannten Plattformen, Kanäle und Inhalte wurden aus öffentlich zugänglichen Quellen entnommen. Der Zugriff war zum Zeitpunkt der Auswertung frei verfügbar. Die Analyse erfolgt ausschließlich zu wissenschaftlich-journalistischen Zwecken.

 

Literaturangaben:

Appadurai, A. (1996). Modernity at Large: Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis: University of Minnesota Press.

Anthias, F. (1998). Evaluating ‘Diaspora’: Beyond Ethnicity? Sociology, 32(3), 557–580. https://doi.org/10.1177/0038038598032003009

Brubaker, R. (2005). The ‘Diaspora’ Diaspora. Ethnic and Racial Studies, 28(1), 1–19. https://doi.org/10.1080/0141987042000289997

Danish Refugee Council. (2019). Afghan Diaspora in Europe: Mapping Engagement in Denmark, Germany, Sweden, and the United Kingdom. Kopenhagen. https://pro.drc.ngo/resources/documents/mapping-study-afghan-engagement-in-denmark-germany-sweden-and-the-united-kingdom-2019/

Hamidi, K. & Donges, P. (2025): Pluralisierung der Öffentlichkeit in Deutschland – Vermittlungsformen aus postmigrantischer Perspektive. Unveröffentlichtes Manuskript.

Hamidi, K. (2024). Exiled, Digitalized and Global: The Communicative and Media Public Sphere of Afghanistan. Media and Politics Section. https://mps-afg.com/exiled-digitalized-and-global-the-communicative-and-media-publicsphere-of-afghanistan/

IOM (2021): Afghan Diaspora Mapping: Final Report. International Organization for Migration. Genf. https://publications.iom.int/system/files/pdf/Diaspora-Afghana_0.pdf

International IDEA. (2018). Political Participation of Refugees: Bridging the Gaps. Stockholm. https://www.idea.int/sites/default/files/publications/political-participation-of-refugees-bridging-the-gaps.pdf

Khurasani, S. (2024). Taliban Lobbyists on Twitter/X: Structures, Actors and Content. Media and Politics Section. https://mps-afg.com/taliban-lobbyists-on-twitter-x-structures-actors-and-content/

Pro Asyl (2025): Afghan:innen in Deutschland – Schutz, Perspektiven und politische Verantwortung. Positionspapier, Mai 2025. [Online verfügbar unter: https://www.proasyl.de] (Abruf: Juni 2025).

Reuters Institute. (2023). Digital News Report 2023. Oxford: University of Oxford. https://reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/digital-news-report/2023

Stadt Frankfurt am Main. (2024). Neues Allzeithoch bei der Bevölkerungszahl. Abgerufen am 17. Juni 2025, von https://frankfurt.de/frankfurtde/pdf/pdf-fsa

Statistisches Bundesamt. (2024). Statistischer Bericht – Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund – Erstergebnisse 2024 [Excel-Datei, nicht barrierefrei]. Destatis.       Statistischer Bericht – Mikrozensus – Bevölkerung nach Migrationshintergrund – Erstergebnisse 2024 (xlsx, 11MB, Datei ist nicht barrierefrei)

Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) (2024): Arrived and transnationally connected: Afghan immigrants in Germany. Berlin: SVR. [Online verfügbar unter: https://www.svr-migration.de] (Abruf: Juni 2025).

 

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