Die US-Medien erkannten die Finanzkrise von 2008 zu spät auf ihrem Radar. Ein altgedienter Journalist fragt in seinem Buch nach den Gründen für dieses Versagen.
Jahrelang haben Dean Starkman diese Fragen umgetrieben: Warum hat der Wirtschafts- und Finanzjournalismus in den USA den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen? Weshalb haben all die investigativen Wachhunde in den Redaktionen nicht gebellt, bevor die Subprime- und dann die Banken- und Finanzkrise heraufzogen und die Welt in ungeahnte Turbulenzen stürzten?
Starkman kann auf jahrzehntelange journalistische Erfahrung als investigativer Reporter und Wirtschaftsjournalist bauen und war, bevor er sich als Wall Street-Korrespondent von der Los Angeles Times engagieren ließ, sieben prägende Jahre als Medienkritiker bei der renommierten Columbia Journalism Review im Einsatz. Er ist also prädestiniert, schlüssige Antworten zu liefern, und er tut das in seinem neuen Buch – allerdings auf Umwegen. Denn vergleicht man den Titel mit dem Inhalt, so handelt es sich wahlweise um eine Mogelpackung oder, bei wohlwollender Betrachtung, um ein Überraschungs-Ei.
News oder Recherchen
Das Buch dreht sich zunächst um ganz anderes, als Titel und Untertitel verheißen: Starkman verfolgt über ein ganzes Jahrhundert hinweg, wie sich zwei komplementäre, aber auch widerstreitende Stränge des amerikanischen Journalismus entwickeln: Der „access journalism“, bei dem es im Wesentlichen darum geht, als Erster und somit möglichst exklusiv von den Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik Informationen mit Nachrichtenwert zu bekommen. Und der „accountability journalism, der den Mächtigen auf die Finger klopft und dem nachspürt, was diese auf keinen Fall in den Medien sehen möchten.
Letzterer wird gemeinhin auch als „investigativer Journalismus“ gehandelt, was freilich nicht immer den Tatsachen entspricht – denn oftmals bedarf es eher eines Whistleblowers als monatelanger journalistischer Recherche, um diese Spielart in Gang zu setzen. Starkman verfolgt beide Stränge. Zunächst geht es ihm um die frühen Glanzzeiten des investigativen Wirtschaftsjournalismus. Ida Tarbell und andere „muckrakers“ (Schmutzaufwirbler) des frühen 20. Jahrhunderts werden uns nahegebracht. In aller Breite wird sodann dargestellt, wie Barney Kilgore in den dreißiger Jahren die beiden Stränge zusammengeführt und das Wall Street Journal zur Ikone des US-Wirtschaftsjournalismus gemacht hat, die es geblieben ist, bis die Zeitung im Jahr 2007 in die Fänge des Medienunternehmers Rupert Murdoch geriet.
Erst spät bewegt sich Starkman auf sein avisiertes Thema zu und analysiert, wie sich der amerikanische Wirtschaftsjournalismus in der Subprime- und Bankenkrise geschlagen hat. Seine Studie lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die medialen Wachhunde mehr mit dem Schwanz gewedelt als gebellt haben. Flankierend habe es zwar immer wieder herausragende journalistische Einzelleistungen von Außenseitern gegeben. Sie hätten aber mit ihren Enthüllungen über die kriminellen Energien in der Branche nicht hinreichend Beachtung gefunden. Insgesamt konnte der „accountability journalism“ sich gegen das stärker PR-gesteuerte „access reporting“ nicht durchsetzen. Das Frühwarnsystem, als das der Journalismus sich so gerne selber sieht, wenn Verleger oder Chefredaktoren oder auch Medienforscher in Sonntagsreden dessen Unentbehrlichkeit für die Demokratie unterstreichen, ist folglich weitgehend ausgefallen – aber das sieht Starkman durchaus auch als Folge der Krise, in der sich der amerikanische Journalismus aufgrund der durch das Internet bedingten Verwerfungen in diesen Jahren bereits selbst befand.
Journalisten im Hamsterrad
Spannend ist nicht zuletzt Starkmans Blick auf den Hamsterrad-Journalismus, der unter den Bedingungen der Digitalisierung und fortschreitender Bündelung journalistischer Aktivitäten vor allem in großen Medienkonzernen entstanden ist. Dem wissenschaftlichen Beobachter mögen sich zwar die Haare sträuben angesichts der Personalisierung, die hier betrieben wird. Aber so ganz unrecht hat Starkman wohl nicht, wenn er für den amerikanischen Journalismus Al Neuharth, Sam Zell und Rupert Murdoch als die drei Wegbereiter identifiziert, die in den letzten Jahrzehnten dessen anti-intellektuelle Wende herbeigeführt haben.
Das Trio infernale hat zwar an gänzlich verschiedenen Einsatzorten gewirkt: Al Neuharth, der renditeversessene Vorstandschef von Gannett und legendäre Gründer von USA Today, war jahrzehntelang auf seinem Kommandoposten als Verleger und Journalist im Einsatz. Sam Zell, der Impresario und branchenfremde Immobilien-Tycoon, benötigte mit seinen kriminellen Energien dagegen nur wenige Jahre, um nicht nur die Pensionskassen des von ihm übernommenen Medienkonzerns zu plündern, sondern mit der Chicago Tribune und der Los Angeles Times gleich zwei einstmals hochangesehene Flaggschiffe des Zeitungsjournalismus vorzeitig an die Wand zu fahren. Und eben Murdoch, der nicht nur ein weltumspannendes Medienimperium aufgebaut hat, sondern sich in seiner Gier auch am Wall Street Journal vergriffen hat, um der linksliberalen und ihm verhassten New York Times den Krieg erklären zu können. Gemeinsam ist den dreien, dass jeder in seinem Wirkungsfeld und auf seine Weise ein Totengräber des „accountability reporting“ war, das Starkman so am Herzen liegt und mit dem sich in Amerika eine Vielzahl von Redaktionen noch immer gerne schmücken – zumindest einmal jährlich, wenn sie um die Pulitzerpreise konkurrieren, und das trotz der drastischen Schrumpfkur, der sich viele amerikanische Medienhäuser im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts unterziehen mussten.
Zwei Aspekte bleiben bei Starkman indes eher unterbelichtet: Weil er selbst kein Forscher ist, stützt er seine Thesen zum weitgehenden Versagen der Mainstream-Medien überwiegend auf zwangsläufig impressionistische eigene Beobachtung statt auf quantitativ-empirische Befunde zur Wirtschafts- und Finanzberichterstattung, die ein objektiveres Bild vermitteln könnten.
Die Wirtschaft ausgeblendet
Als Insider vermag er wohl auch eine Eigenheit des amerikanischen Journalismus nicht zu sehen, die Beobachter aus Europa schon seit langem frappiert und fasziniert: Traditionell richten sich in den USA investigative Projekte meist gegen Regierungs- und Verwaltungsapparate. Dass im privatwirtschaftlichen Sektor, zumal bei Banken und Finanzinstituten, Korruption und Kriminalität noch in ganz anderen Dimensionen wuchern und erblühen könnten als im öffentlichen Sektor, war lange Zeit kaum vorstellbar. Entsprechende Verdächtigungen wurden als marxistische Verschwörungstheorien abgetan – und blieben wohl auch deshalb aus dem öffentlichen Diskurs ausgeblendet. Womöglich sind die USA trotz ihrer hochentwickelten Kultur des „accountability reporting“ auch deshalb in die Banken- und Finanzkrise geschlittert, weil ihr investigativer Journalismus auf einem Auge relativ blind war.
Dean Starkman: The Watchdog That Didn’t Bark. The Financial Crisis and the Disappearance of Investigative Journalism. Columbia University Press, 2015. 368 S.
Erstveröffentlichung: NZZ vom 17. Oktober 2015
Bildquelle: Butz.2013 / Flickr CC
Schlagwörter:accountability reporting, Bankenkrise, Dean Starkman, Finanzkrise, investigativer Journalismus, USA, Watchdog, Wirtschaftsjournalismus