Trotz Web 2.0: Gatekeeper bleiben relevant

20. Juli 2016 • Qualität & Ethik • von

Welche Relevanz der Begriff des Gatekeepers heute noch hat, erklärt der Band „Gatekeeping“ von Ines Engelmann aus der Reihe „Konzepte“ prägnant und übersichtlich von den Anfängen der Gatekeeper-Forschung bis hin zu seiner Adaption für die heutigen Medienlandschaften.

GatekeepingWie entscheidet eine Hausfrau im Supermarkt darüber, was es am Abend zu Essen gibt? 1947 untersuchte Kurt Lewin die Rolle von Frauen für die Lebensmittelauswahl ihrer Familien und entwickelte dafür das Konzept der „Torwächter“, der gatekeeper. Der 1933 in die USA emigrierte Sozialpsychologe stellte seinen Artikel nie fertig. Aber sein Begriff des gatekeepers inspirierte den Kommunikationswissenschaftler David Manning White. White versuchte damit die Frage zu beantworten, warum manche Nachrichten es in die Zeitungen schaffen, während andere unbeachtet bleiben. Sein „Mr. Gates“ (1950) bildete den Ausgangspunkt für die Entwicklung der bis heute für die Kommunikationswissenschaften einflussreichen Gatekeeping-Theorie.

Schon Lewin war klar, dass Käufer ihre Entscheidungen nur aufgrund von bereits vorher und unabhängig von ihnen gefallenen Entscheidungen treffen können. Auch die einsetzende Forschung in Zeitungsredaktionen begriff den Prozess der Nachrichtenauswahl bald als Abfolge von Entscheidungen, eingebettet in Routinen und Strukturen. Damit rückte die Aufmerksamkeit weg vom einzelnen Journalisten und hin zu den Nachrichtenorganisationen, ihren differenzierten Regelsystemen und den verschiedenen journalistischen Routinen und Rollen. Ines Engelmann fasst die Erweiterung und Adaption der Modelle über einen Zeitraum von knapp 70 Jahren auf etwa 100 Seiten anschaulich zusammen. Damit empfiehlt sich der schmale Band vor allem für Studienanfänger, die einen ersten Überblick über das Forschungsfeld erhalten wollen, eignet sich aber auch zur Rekapitulation und Auffrischung vorhandenen Wissens.

Das Buch ist klar strukturiert, in sieben Kapiteln werden die Grundzüge und die Entwicklungsgeschichte des Gatekeeping-Ansatzes beleuchtet, seine Methoden und empirischen Befunde diskutiert und Weiterentwicklungen sowie verwandte und konkurrierende Ansätze vorgestellt. Dem knappen Fazit folgen die prägnant besprochenen „Top 10 der Forschungsliteratur“ sowie 16 Seiten mit weiterführender Literatur. Hilfreich sind sicher die auf fast allen Seiten eingefügten Textkästen, in denen einzelne Schlüsselbegriffe definiert oder die vorgestellten Theorie-Modelle grafisch dargestellt werden. Zwischen den leserfreundlich gestalteten Überblicktexten gibt Engelmann zudem Einblick in die Ergebnisse und Forschungsdesigns einzelner Studien und stellt wichtige Autoren mit ihren Biographien oder in anekdotischen Erzählungen vor.

Die Bände der von Patrik Rössler und Hans-Bernd Brosius seit 2010 herausgegebenen Reihe „Konzepte“ haben ihren Schwerpunkte in der Rezeptionsforschung. 2016 sind bereits die Bände „Priming“ von Betram Scheufele und „Presence and Involvement“ von Matthias Hofer erschienen. Der hier besprochene Band fügt sich in diese Reihe ein, weil Engelmann nicht nur die klassischen Gatekeeper-Ansätze vorstellt, die sich zunächst auf die Rolle von Journalisten und Medienorganisationen fokussierten, sondern auch Ansätze diskutiert, die das Publikum als zusätzlichen Gatekeeper in den Blick nehmen. Dieser Zweig der Forschung hat gerade mit den interaktiven Möglichkeiten des Web 2.0 an Bedeutung gewonnen.

Hier weist der Band auf aktuelle Forschungslücken hin. Unklar ist demnach weiterhin, welche Mechanismen Journalisten nutzen, um ihre Veröffentlichungen den Interessen des Publikums anzupassen. Zwar ermöglichen die technischen Möglichkeiten der Webmetrik heute einen wesentlich umfangreicheren Einblick in das Verhalten von Nachrichtenkonsumenten. Das Wissen um Klickzahlen, Bewertungen und Empfehlungen beeinflusst sowohl Nutzer wie auch Journalisten, doch die genauen Mechanismen sind bisher noch unklar. Erste empirische Studien, die erklären wollen, wie Suchmaschinen als die neuen technischen Gatekeeper mit der zunehmenden Personalisierung von Trefferlisten die Prozesse der Nachrichtenproduktion beeinflussen, ergaben ebenfalls widersprüchliche Ergebnisse. Ansätze wie das Gate-Watching von Axel Bruns (2009), das Netzwerk-Gatekeeping von Karine Nahon (2009) oder das kollektive Gatekeeping von Till Keyling (im Druck) versuchen den Wandel der medialen gatekeeping-Prozesse mit ihren technologischen und professionellen wie auch ihren politischen und gesellschaftlichen Aspekten zu erfassen.

Damit bleibt der Begriff des Torhüters weiterhin relevant für Medienwissenschaftler und -schaffende. Welche verschiedenen Pforten eine Information passieren muss, warum die einzelnen Wächter sie als relevant oder uninteressant bewerten und wie sich die verschiedenen Gatekeeper gegenseitig in ihren Entscheidungen beeinflussen, können auch die weiterentwickelten Theorien nicht abschließend erklären. Für Engelmann besteht die Rolle von Gatekeepern trotz aller theoretischen Weiterentwicklung weiterhin darin, „einen Überblick über die aktuellen vorhandenen gesellschaftlichen Problemlagen zu geben, die Meinungsbildung zu ermöglichen oder zu erleichtern und dem Publikum Argumente für Diskussionen mit anderen an die Hand zu geben. Andererseits (…) haben Gatekeeper die Macht darüber, welche gesellschaftlichen Themen nicht öffentlich verhandelt werden.“ Die Zukunft des Forschungszweigs sieht die Autorin unter anderem in der Kombination von verschiedenen Methoden, vor allem in der Analyse von Medieninhalten über längere Zeiträume und unter Einbeziehung unterschiedlicher kultureller und organisatorischer Kontexte sowie einer weiteren Öffnung der Theorie für Ansätze aus der Rezeptionsforschung.

Gatekeeping von Ines Engelmann, Nomos-Verlag, 2016 aus der Reihe Konzepte, Band 16, herausgegeben von Patrik Rössler und Hans-Bernd Brosius

Bildquelle: Luca Sartoni / Flickr CC: Gatekeeper; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/

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