Notabschaltung

26. Juni 2017 • Digitales, Qualität & Ethik • von

In Zeiten digitaler Kommentarspalten stehen Journalisten vor neuartigen Aufgaben: Ihre Arbeit ist mit dem Erscheinen des Artikels nicht mehr getan, sondern geht online weiter. Nicht mehr der Gatekeeper ist gefragt, sondern der Moderator.

Leserbriefe sind so alt wie die Zeitung. Doch zweifellos ist es in Zeiten digitaler Kommentarspalten viel leichter geworden, kritische Fragen an Journalisten und ihre Arbeit zu stellen. Kein Wunder, dass diese Möglichkeit euphorisch begrüßt wurde, vor allem seit die Leser ökonomisch wieder wichtiger für die Presse sind als die Werbung. Einige sahen sogar neue Formen des öffentlichen Diskurses kommen: In Leserforen würden Bürger unabhängig von der redaktionellen Berichterstattung über relevante Themen ihrer Wahl debattieren.

Doch neue Medien machen noch keine neuen Menschen: Rasch flutete eine kleine Minderheit die Kommentarspalten mit unsachlichen Wortmeldungen, Beleidigungen und Bedrohungen. Viele Redaktionen haben in ihrer Not die Kommentarfunktion daher ganz abgeschaltet. Durch die Streichkonzerte der Verlage ohnehin geschwächt, stehen Journalisten vor neuartigen Aufgaben: Ihre Arbeit ist mit dem Erscheinen des Artikels nicht mehr getan, sondern geht online weiter. Nicht mehr der Gatekeeper ist gefragt, sondern der Moderator. Davon war in der Ausbildung nie die Rede. Und es tun sich neue ethische Fragen auf: Laut Pressekodex sollen nutzergenerierte Inhalte genauso wie redaktionelle behandelt werden. Doch ist der Wahrheitsanspruch ein geeignetes und realistisches Kriterium für den Umgang mit täglich mehreren Hundert meinungsstarken aber faktenschwachen Nutzerbeiträgen? Wer könnte hier noch Gegenrecherche leisten? Soll das Kommentieren auf ausgewählte Artikel, Zeiten oder Abonnenten begrenzt oder zu Facebook ausgelagert werden, auch wenn das zu Kontroll- und Qualitätsverlusten führt?

Derzeit wird experimentiert: Manche setzen statt Notabschaltung auf Anti-Troll-Filter oder Gebühren fürs Kommentieren. Andere versuchen, ihre Leser journalistisch zu qualifizieren, um aus Leserkommentaren publikationsfähige redaktionelle Beiträge zu machen.

Die eigentliche Frage ist jedoch: Was ist die realistische Aufgabe des Journalismus? Geht es um elektronische Leserbriefe, um „betreutes Schreiben“ oder um ein Leserforum, das selbstständig Themen und Ideen diskutiert?

 

Eberwein, Tobias et al. (2016): Lästige Gäste? Partizipation und Produsage als Probleme der journalistischen Selbstregulierung. Ergebnisse einer Drei-Länder-Studie. Medien Journal 2/2016, S. 34-48.

Vogel, Andreas (2017): #wortgewalt(ig). Leser*innen- und Nutzer*innen-Kommentare in Medienöffentlichkeiten. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung; http://library.fes.de/pdf-files/akademie/13352.pdf

WAN-IFRA (2016). Do Comments Matter? Global Online Commenting Study 2016; http://www.wan-ifra.org/microsites/do-comments-matter

 

Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 25. Juni 2017

 

Bildquelle: pixabay.com

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