Gastbeiträge als Megaphon im Journalismus

6. Dezember 2018 • Qualität & Ethik • von

Was in Gastbeiträgen oder Gastkommentaren publiziert wird, findet viel Aufmerksamkeit, wird aber presseethisch als ein Spiel ohne Spielregeln gewertet.

Im Pressekodex des Deutschen Presserats finden Gastbeiträge bei den „Richtlinien für die publizistische Arbeit“ keine Erwähnung. Ein solcher Text, so scheint es, unterliegt nicht der „Berufsethik der Presse“ – er ist ja eine punktuelle Meinungsäußerung. Die Leserschaft, die einen Gastautor oder eine Gastautorin zur Kenntnis nimmt, sucht einen Beitrag im O-Ton und, soviel ist zuzugeben, sie profitiert auch von einem Beitrag im O-Ton, selbst dann, wenn der Text durch ein ganzes Kommunikationsteam poliert wurde. Man kann sich allenfalls fragen, ob nicht ein gut geführtes Interview ein noch größeres Potential hätte.

Redaktionen können Gastbeiträge als journalistische Dienstleistungen verstehen – womöglich mehr für die politischen Akteure als für die allgemeine Leserschaft. So etwa, wenn im Rahmen eines Staatsbesuchs der Staatsgast der Regierung und Öffentlichkeit des besuchten Landes seine Sicht der Dinge darlegt. Redaktionen können Gastbeiträge auch als Parlamentsdebatte im Volkston verstehen. So etwa, wenn ein Parteivertreter das Äquivalent eines Debattenbeitrags zum Druck bringt, ohne dass im Wechsel von Rede und Gegenrede weitere Aufklärung gesucht würde. Redaktionen können Gastbeiträge, um nur eine weitere Option zu nennen, auch als Ersatz für einen redaktionellen Leitartikel verstehen, und dadurch im Fortissimo kommunizieren, was eine Redaktion selbst wohl nur im Mezzoforte verbreiten würde.

Es wäre müßig, Gastbeiträge und Gastkommentare kritisch auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu beziehen, denn das steht nicht in Frage. Doch bleiben zwei Einwände zu erörtern: Erstens, ob eine Redaktion in jedem Fall gut beraten ist, einem Autor oder einer Autorin das Megaphon in die Hand zu drücken, und zweitens, ob eine Redaktion Tatsachenbehauptungen, die mit der Meinungsäußerung verflochten sind, nach den üblichen Standards der publizistischen Arbeit überprüfen müsste. Einige neuere Beispiele können das Problem illustrieren.

Während Alice Weidel sich in einer Debatte des Bundestags im Mai 2018 für ihren Satz „Burkas, Kopftuchmädchen und alimentierte Messermänner und sonstige Taugenichtse werden unseren Wohlstand, das Wirtschaftswachstum und vor allem den Sozialstaat nicht sichern“ einen Ordnungsruf einhandelte, weil sie damit „alle Frauen, die ein Kopftuch tragen“, diskriminiert habe, konnte Hans-Hermann Tiedje in einem Gastkommentar in der Neuen Zürcher Zeitung im August 2018 ohne Weiteres seine Meinung über eine „Migrationskrise“ oder ein „Migrationsdesaster“ bekunden, die Aufnahme von Flüchtlingen und Migranten mit der Feststellung kommentieren, „von den vielen angeblich eingetroffenen syrischen Ärzten ist wenig zu sehen, umso mehr zu spüren von zugereisten nordafrikanischen Kriminellen“, und wenig später im Kontext gegenüber der Koalitionspartei SPD erklären: „Das ständige Fordern von Gerechtigkeit und gleichzeitig der Entkriminalisierung von Ladendieben, Schwarzfahrern und Drogenkonsumenten kommen schlecht an beim traditionellen, gesetzestreuen Malocher, der einst das Rückgrat der Partei bildete.“ Merkel wirke auf viele, so Tiedje weiter, „wie eine Grabplatte, die sich auf Deutschland gelegt hat“.  Die Redaktion der NZZ konnte sich entspannt zurücklehnen. Ironischerweise erteilte sich der erfahrene Journalist selbst einen Ordnungsruf, indem er notierte: „Die Diskussionskultur ist völlig aus dem Ruder gelaufen“.

Ein anderes Beispiel ist ein Gastbeitrag von Alexander Gauland in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 6. Oktober 2018 {2a}. Der Autor räsoniert über eine „globalisierte“, gleich „globalistische“ „Klasse“ und postuliert eine historische Notwendigkeit von „Fundamentalopposition“ und „Populismus“. In diesem Fall wünschte die Redaktion eine kontroverse Debatte über die publizistisch eindeutig markierten „fremden Federn“ und druckte eine Anzahl Leserbriefe im Spektrum von Applaus bis Analyse ab. Ein Leserbrief-Schreiber erklärte am 12. Oktober die mit großem sozialwissenschaftlichem Gestus konstruierte „globalistische Klasse“, deren Heimatliebe sich auf das Golfspielen an beliebigen Orten der Erde beschränke, zu einem reinen „Popanz“, ein Redakteur folgte am 17. Oktober mit der Feststellung, Gaulands Rhetorik der Globalisierungskritik biete eine „Karikatur der Wirklichkeit“. Als Mitglied des Herausgeberkreises der Zeitung versuchte Berthold Kohler unterdessen am 13. Oktober, eine lebhafte Debatte über konzeptionelle und rhetorische Anleihen auf das Kriterium der Meinungsfreiheit zurückzulenken. Unvorhergesehenes Interesse gewann der Gastbeitrag durch einen Antrag von Gaulands Partei im Bundestag am 11. Oktober, denn während der Partei- und Fraktionsvorsitzende darlegte, „Wir sind gerade dabei, auf Geheiß der globalistischen Elite vieles von dem zu riskieren, was unser Land und unseren Erdteil lebenswert macht: den inneren Frieden, den Rechtsstaat, die soziale Sicherheit, die Gleichberechtigung der Frau, die Meinungs- und Religionsfreiheit“, präsentierte seine Fraktion mit Bezug auf den „rechtlich problematischen Charakter“ bestimmter „Koranstellen“ die Forderung an die Bundesregierung, „die Verbreitung von im Koran enthaltenen gesetzwidrigen Inhalten und Aufrufen zu unterbinden“. Innerer Friede, Rechtsstaatlichkeit und Religionsfreiheit sollen also politisch konkret ein Koranverbot bedeuten, der Gastbeitrag im O-Ton und die Initiative im Bundestag ergeben für eine aufmerksame Leserschaft einen erhellenden Kontrast.

Sollen nun aber auch Gastbeiträge mit falschen Tatsachenbehauptungen von den Grundsätzen der Achtung vor der Wahrheit und der Verpflichtung zu journalistischer Sorgfalt (Pressekodex Ziffern 1 und 2) ausgenommen werden? Das Problem stellte sich bei dem Gastbeitrag des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 27. September 2018. Presseethisch ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Staatspräsident im O-Ton erklärt: „Unsere primäre Erwartung an die Bundesrepublik ist, dass sie […] Fetö [d.h. die postulierte „Fethullahistische Terrororganisation“] als Verantwortlichen für den Putschversuch anerkennt.“ Auch nicht, wenn er erklärt: „Darüber hinaus würden entschiedene Schritte unserer deutschen Freunde gegen Institutionen, Organisationen und Mitglieder von Fetö […] zu einem Wohlgefallen des türkischen Volkes führen […].“ Dass die „entschiedenen Schritte“ „im Lichte der unsererseits vorgelegten Beweise“ erfolgen sollen, mag gleichfalls noch als Ausdruck einer subjektiven Überzeugung des Autors gelten.

Doch wenn Erdoğan seine „primäre Erwartung“ mit der Behauptung verbindet, „die Regierung des Vereinigten Königreiches“ habe „Fetö als Verantwortlichen für den Putschversuch“ anerkannt, wird eine Tatsachenbehauptung publiziert, wie sie eigentlich nach dem Pressekodex „mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen“ wäre. Nachdem schon in einem Leserbrief vom 5. Oktober beanstandet worden war, dass die FAZ den Gastbeitrag „ohne eine Stellungnahme der Gegenparteien oder ohne einen neutralen Hintergrundbericht“ publiziert hätte, erklärte auch der Autor des vorliegenden Beitrags in einem Leserbrief am 26. Oktober die Behauptung über die Position der Regierung Großbritanniens gegenüber den türkischen Erklärungen zum Putschversuch mit Bezug auf öffentlich verfügbare Quellen als unzutreffend. Auch in anderen Punkten hätte eine journalistische Recherche zu massiven Zweifeln an Tatsachenbehauptungen in dem Gastbeitrag führen müssen. In der Presseethik besteht hier eine Lücke, die durch einen neuen Grundsatz für die redaktionelle Publikation von Gastbeiträgen zu füllen wäre.

Bildquelle: pixabay.com

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