Neue Zürcher Zeitung, 21. November 2003
Kamera-Mobiltelefone als neues Werkzeug
Noch sieht man sie hierzulande nur vereinzelt. Bald dürften die mit Kameras ausgerüsteten Mobiltelefone jedoch allgegenwärtig sein. Und bereits wird darüber gerätselt, ob Foto-Handys auch die journalistische Arbeit und den Journalismus selbst beeinflussen werden. Erste Beispiele sind bereits zu beobachten.
Ein hierzulande noch eher ungewohntes Bild bieten Personen, die ihr Handy auf offener Strasse abwägend vor dem Gesicht herumschwenken. Besonders in Japan soll dieses Phänomen aber immer öfter beobachtet werden können. Kein Wunder, denn rund 20 Millionen der gegenwärtig in Japan verwendeten Handys können zugleich auch als Fotoapparat verwendet werden; 96 Prozent der heute zum Verkauf angebotenen Mobiltelefone sind mit integrierter Kamera ausgerüstet. Das sind Zahlen, von denen Netzbetreiber und Handy-Hersteller in Europa und Amerika vorderhand nur träumen können. Lediglich 2,7 Millionen Foto-Handys sind im zweiten Quartal des laufenden Jahres zum Beispiel in Westeuropa verkauft worden. Dies soll sich indes nicht zuletzt dank gross angelegten Werbekampagnen bald ändern. Timothy Mui, Analytiker beim Marktforscher IDC, geht auf Anfrage davon aus, dass 2004 mehr als 20 Prozent der auf dem alten Kontinent verkauften Mobiltelefone auch Fotos werden schiessen können. Der Sprecher eines Schweizer Mobilnetzbetreibers schätzt den Anteil der Foto-Handys hierzulande derzeit immerhin auf bereits 10 Prozent.
Weblogs für Schreibfaule
Aber was tun mit dem geknipsten Bild, wenn man nicht weiss, ob das Telefon des Empfängers Mitteilungen im MMS-Format (Multimedia Message Service) empfangen kann, und wenn die Interoperabilität – also das Versenden von Multimedia-Mitteilungen zwischen Handys verschiedener Hersteller und zwischen Mobilfunknetzen verschiedener Anbieter – noch längst nicht immer gewährleistet ist? Die Möglichkeit, Postkarten via MMS zu versenden, gibt es bereits (NZZ vom 18. 7. 03). Die mit Kamera-Handys geschossenen Bilder können nun der öffentlichkeit zugänglich gemacht werden mit Hilfe sogenannter Photologs, Phlogs oder Moblogs (mobile Weblogs). Moblog-Tools von Anbietern wie Text-America.com, 20six.de, Twoday.net oder des Schweizer Start-ups Kaywa erlauben es, Bilder und Kurztexte via MMS oder GPRS-Mail direkt vom Handy aus ins Internet zu stellen. Während konventionelle Weblogs sich mittlerweile aber vom simplen Tagebuch zu einem ernst zu nehmenden Darstellungsformat auch für seriöse Inhalte gemausert haben und inzwischen auch von Politikern, Stars und Journalisten eingesetzt werden, beginnen die Moblogger wieder auf Feld eins. Kein Ereignis banal genug, kein Ferienerlebnis zu persönlich und kein Bild zu verschwommen, um nicht in einem Moblog aufzutauchen. Da werden mehr oder weniger scharfe Fotos von Konferenzen, Familienfesten und Techno-Partys publiziert, Schwangerschaften und Verkehrsstaus dokumentiert oder Schnappschüsse von berühmten oder diesen zumindest ähnlich sehenden Personen archiviert.
Instantjournalismus
Mit etwas Geduld kann inzwischen aber auch Sinnvolleres auf den Bildschirm geholt werden. Unter «blackout.textamerica.com» wurde im vergangenen August nur wenige Stunden nach dem Zusammenbruch des Stromnetzes etwa die Stimmung in den Strassen New Yorks in Bildern eingefangen, und ein Journalist aus Arizona berichtet in einem Moblog von seiner Arbeit an der amerikanisch-mexikanischen Grenze. Bereits orakeln Medienexperten darüber, wie das Aufkommen der Foto-Handys den Journalismus der Zukunft beeinflussen könnte. Denn nicht nur für privates Instant-Publishing können mit Kameras ausgerüstete Mobiltelefone gute Dienste leisten. Auch etablierte Medienbetriebe dürften sich die zunehmende Verbreitung der multifunktionalen Geräte früher oder später zunutze machen. Denn deren Allgegenwärtigkeit und ständige Verfügbarkeit werden dazu führen, dass professionelle Fotografen und Reporter – mögen sie noch so rasend sein – mit zunehmender Wahrscheinlichkeit später als die mit Kamera-Handys bewaffneten «Gaffer» am Ort eines unerwarteten Ereignisses eintreffen werden. Augenzeugen von Katastrophen, Verbrechen und Grossanlässen werden künftig ihre unmittelbaren Eindrücke auf dem Handy festhalten und die geschossenen Bilder in Sekundenschnelle in alle Welt übermitteln können. Von Bürger-Journalisten und «Citizen Reporters» ist in diesem Zusammenhang die Rede. Erste zaghafte Versuche in diese Richtung können bereits beobachtet werden. So veröffentlichte der «Sonntags-Blick» am Tag nach der diesjährigen Zürcher Street Parade eine Auswahl der von Ravern per Handy übermittelten Bilder des Ereignisses. Und aus Japan wird die Geschichte eines LKW-Fahrers überliefert, dessen Handy-Aufnahmen eines schweren Auffahrunfalls nahezu live von einer Fernsehstation gesendet wurden.
BBC ermuntert Amateure
Noch einen Schritt weiter geht die BBC, die unter dem Titel «Taken a good picture lately?» die Benutzer ihres Internetangebots seit einem halben Jahr auffordert, Bilder aktueller Ereignisse oder persönlicher Erlebnisse via E-Mail oder Kamera-Handy einzusenden. Fotogalerien der Anti-Kriegs-Demonstrationen oder der diesjährigen Hitzewelle sind so auf der BBC-Website entstanden. Der Sender behält sich zudem das Recht vor, geeignete Bilder auch für die eigene Berichterstattung zu verwenden. Rund 200 Fotos werden nach Auskunft des verantwortlichen Bildredaktors, Phil Coomes, der BBC von Amateurreportern wöchentlich zugesandt. Nur ein kleiner Teil davon werde zurzeit mit Mobiltelefonen übermittelt. Coomes gibt sich jedoch überzeugt, dass sich dies bald ändern wird. Aber auch «echte» Journalisten und Fotografen bedienen sich mitunter der neuen Geräte. So publizieren auf der Mode-Website «showstudio.com» professionelle Fotografen ihre mit Handys geschossenen und direkt übermittelten Backstage-Bilder von den Modeschauen dieser Welt. Und kürzlich verwendete die Website der schwedischen Zeitung «Göteborgs-Posten» das von einem eigenen Journalisten gemachte Handy-Bild eines Autounfalls. Ebenfalls mit einem Kamera-Handy gearbeitet haben sollen gemäss Medienberichten Reporter des «Sonntags-Blicks» beim Besuch einer unterirdischen Anlage der Schweizer Luftwaffe. Die Publikation der Informationen hat im August zur Einleitung einer Untersuchung gegen drei Mitarbeiter der Zeitung wegen Verdachts auf Geheimnisverrat geführt. Gegenüber der NZZ wollte Sandro Brotz, stellvertretender Chefredaktor des Boulevardblatts, angesichts des laufenden Verfahrens den Einsatz eines Kamera-Handys weder bestätigen noch dementieren. Die Frage, ob Kamera-Handys in Zukunft zur festen Ausrüstung von Journalisten und Fotografen des Sonntagsblatts gehören könnten, verneint Brotz mit dem Hinweis auf die mangelnde Qualität der Bilder. Es ist indes davon auszugehen, dass sich die Bildauflösung rasch verbessern wird und Kamera-Handys so gerade für Online-Journalisten zu einem interessanten Instrument werden. Nach Auskunft von Bildredaktor Coomes plant etwa die BBC, ihre Mitarbeiter künftig vermehrt mit Foto-Handys auszurüsten.
Der Paparazzo ist überall
Kopfschmerzen dürfte die rasche Verbreitung der Kamera-Handys nicht zuletzt auch den Datenschutzbeauftragten bereiten. Das Recht am eigenen Bild wird Makulatur, wenn Mobiltelefone – vom Betroffenen meist unbemerkt – Sofortbilder schiessen und diese auch noch gleichsam live publiziert werden können. Betreiber von Fitnesszentren in Hongkong und den USA, aber auch Unternehmen wie der koreanische Handy-Hersteller Samsung haben den Gebrauch von Foto-Handys in ihren Räumlichkeiten verboten. Saudiarabien hat den Verkauf der Geräte gleich ganz untersagt. Auch die Zürcher Bademeister zeigten sich diesen Sommer besorgt. Bereits soll sich in Japan eine neue Form des Ladendiebstahls etabliert haben: Zeitschriften und Zeitungen werden nicht mehr gekauft, sondern ausgewählte Artikel mit dem Mobiltelefon fotografiert. Klick!