Weltwoche 12 / 2008
Die Welt ist voller Fragen. Es geht um Seitensprünge, Investitionen und Kleiderwahl. Gut, dass es dafür Journalisten gibt.
Wir hätten da eine Frage. Ich weiss immer noch nicht, was genau ein Orgasmus ist. Ob es z.B. möglich ist, dass ich schon einmal einen Höhepunkt hatte, es aber nicht merkte bzw. ihn nicht von starker Erregung unterscheiden konnte?
Wir hätten noch eine zweite Frage. Ich verlasse meine Wohnung ausserterminlich und suche deshalb einen Nachmieter. Mein Vermieter schert sich jedoch keinen Deut um die vielen Mängel in der Wohnung. Was, wenn ich deswegen keinen Nachmieter finde? Jetzt hätten wir grad noch eine dritte Frage.
Ich trage stets nur Schwarz und Beige. Ich bin eine Elektrozeichnerin, die demnächst ein Architekturstudium beginnt. Welche Farben passen zu mir?
Damit wäre die Frage beantwortet, mit welchem Thema wir uns in unserem Kursus der Medienkunde heute beschäftigen. Es geht um einen der ärgerlichsten Aspekte des Medienschaffens. Es geht um den Beratungswahn.
Unsere Eingangsbeispiele stammen aus Blick, Beobachter und Annabelle. Sie sind nicht allein. Es gibt kaum mehr Zeitungen und Zeitschriften, in denen die Probleme des Herrn Hugentobler und der Frau Friedli nicht mit altklugen Ratschlägen abgefackelt werden. Sind UBS-Aktien ein risikoloses Investment? Sind 14 Zentimeter lang genug?
Auch die elektronischen Medien, vorab das Radio, sind voll auf den Beichtstuhl-Journalismus abgefahren. Sehr beliebt sind Stil-und besonders Tierprobleme. Was tun, wenn der Kanarienvogel andauernd kotzt? Was, wenn der Zwergpudel über Nacht schwul geworden ist?
Den Zeitungen und Zeitschriften laufen seit Jahren die Leser davon. Die Auflagen sinken, die Reichweiten schrumpfen. In diesem Marktumfeld gibt es in Verlagen zwei Reizwörter, die noch als einigermassen sichere Rezepte für lebensverlängernde Massnahmen stehen. Sie heissen Nutzwert und Leserbindung.
Dahinter steht die Idee, dass der Mediennutzer von 2008 die Informationen immer irgendwo bekommt, im Internet, zufällig, am TV, irgendwie. Was der Mediennutzer von 2008 nicht zufällig bekommt, so die Idee, sind Lebenshilfe, Verwertbarkeit und Ratschläge fürs Leben. Mein Blatt, so soll der Leser denken, erspart mir den Gang zum Vermögensverwalter, Stylisten und Urologen. Meistens aber endet die dargebotene Medienhand in quicker Hauruck-Beratung und schnellem Handauflegen. Es gibt nur drei Berater in der Schweizer Mediengeschichte, die wirklich grossartige Ratgeber waren. Unbestrittene Nummer eins ist Fritz Schäufele, der Briefkastenonkel von Radio Beromünster in den fünfziger Jahren. Keiner erklärte besser die Folgen von Fuss-und Fliegenpilz. Nummer zwei ist Martha Emmenegger, die Sextante des Blicks in den achtziger Jahren. Keine erklärte besser die Freuden von Treue und Seitensprung. Nummer drei ist Bruno Gideon, der Unternehmer und Geldonkel der Sonntagszeitung in den achtziger Jahren. Keiner erklärte besser die Risiken von Aktien und Bonds.
Das war’s. Wir finden, dass dies wieder einmal eine ausserordentlich informative und kluge Kolumne war. Das Problem ist nur, ob man das öffentlich sagen darf. Wir hätten darum eine vierte Frage. Darf ich behaupten, ich sei grundsätzlich klug?
Dieselbe Frage stellte Roland Zimmermann aus Nottwil. Er stellte sie an die Weltwoche in ihrer Frage-Rubrik «Darf man das?». «Klugheit heisst», antwortete das Blatt, «die Welt so zu sehen, wie sie ist. Weil wir aber gemeinhin umgekehrt meinen, die Welt sei so, wie wir sie sehen, geraten wir in einen Zirkelschluss, halten uns für klug und klüger als die andern.» Danke. Sehr hilfreich.