Türkeiberichterstattung vor dem Presserat

8. August 2018 • Qualität & Ethik • von

Der Deutsche Presserat hat sich in zwei Verfahren mit Fragen zur Türkeiberichterstattung beschäftigt. In einem Fall hat er dabei ein Eigentor geschossen. Der Fall kann nur einmal mehr deutlich machen, wie wichtig eine medienwissenschaftliche Untersuchung über die Nähe des Journalismus zur Feindbild-Kampagne gegen den in die USA emigrierten Prediger Fethullah Gülen wäre. Sie bleibt aber ein Desiderat, obschon diese Kampagne den türkischen Präsidenten in seine neue Position nahezu unumschränkter Macht gebracht hat.

Die „Bewegung des gemäßigten islamischen Predigers Fethullah Gülen“ wurde in der türkischen Regierungspropaganda spätestens im Herbst 2015 zur „Fethullahistischen Terrororganisation“, die man in der Türkei – so staunte damals der später inhaftierte deutsche Türkei-Korrespondent Deniz Yücel – „allen Ernstes als ‚FETÖ‘ abkürzt“ (WELT, 2. September 2015 bzw. WELT, 15. September 2015). Die von Gülen vertretene, an Traditionen des Sufismus angelehnte Lehrrichtung des Islam hat mit einer „Terrororganisation“ nichts zu tun – selbst wenn irgendwelche Anhänger erworbene Machtpositionen in Justiz und Verwaltung missbraucht haben sollten – und die Unterstellung eines terroristischen Charakters dann noch mit einem Akronym zu popularisieren, ist schon ein Phänomen eigener Art.

Die 1986 aus der Bewegung Gülens heraus gegründete Zeitung Zaman wurde im März 2016 als ein regierungskritisches Blatt unter staatliche Aufsicht gestellt. Im Juni 2018 wurde Erdoğan mit gut 52% Zustimmung in seinem durch eine neue Verfassung ausgestalteten Amt bestätigt. Für den Zeitraum zwischen März 2016 und Juni 2018 dürfte eine Studie zur Presseberichterstattung über die Verfolgung von „FETÖ“ in der Türkei interessante Ergebnisse versprechen.

Warum übernehmen die Medien ungeprüft Erdogans Narrativ?

Ein dritter Markstein war die militärische Putschaktion vom 15. Juli 2016. Der Sprecher des türkischen Parlaments, Ismail Kahraman, erklärte dazu in einer Rede vor dem türkischen Religionspräsidium (Diyanet): „Diejenigen, die wahnsinnig genug waren, den Präsidentenpalast und das türkische Parlament zu bombardieren, wollten in Tat und Wahrheit gar keinen Erfolg haben. Das tatsächliche Ziel war, zu Chaos und Aufruhr anzustiften.“ Vor demselben Forum erklärte Präsident Erdoğan: „[…] Ja, kann man etwas anderes von denjenigen erwarten, die aus F-16ern und F-4ern Bomben auf ihre Mitbürger herabregnen lassen? Das türkische Parlament wurde bombardiert. Der Präsidentenpalast wurde bombardiert.“

Reicht es aus, wenn Journalisten, Redakteure und Gastautoren Mal um Mal wiederholen, die „Putschisten“ hätten das „Parlament“ bombardiert, oder wäre zu recherchieren, wann und aus welchen Flugzeugen Bomben auf den Präsidentenpalast und das Parlamentsgebäude abgeworfen wurden? Reicht es aus, Mal um Mal zu wiederholen, die türkische Regierung schreibe die Verantwortung für die Putschaktion der Bewegung von Fethullah Gülen zu, oder gehen Redaktionen damit Erdogans Propaganda auf den Leim und betreiben bloßen Suggestivjournalismus? Wäre nicht zu prüfen, welche belastbaren Beweise die Regierung für ihre Kampagne gegen die Bewegung Gülens als „terroristische Vereinigung“  vorzulegen hat? Warum ist Gülen für ein- und denselben Journalisten mal ein „muslimischer“, dann ein „islamistischer“ Prediger, und später der Begründer einer „islamischen Bewegung“ mit einer „säkularen Fassade“ (SPIEGEL 42/2017, 47/2017, 24/2018, jeweils in Artikeln von M. Knobbe u.a.)?

Der amerikanische Außenminister John Kerry sagte im Juli 2016 auf einer Pressekonferenz: „Ich habe den Außenminister [der Türkei] gedrängt sicherzustellen, dass in was auch immer sie uns an Dokumentationen und Gesuchen zuschicken, sie uns Beweise zuschicken, nicht Beschuldigungen.“ Dieser Impuls ist im Journalismus nicht angekommen. Über die Forderung des Europäischen Parlaments ein Jahr später „stichhaltige Beweise bezüglich der Urheber des Putschversuchs vorzulegen“, wurde erst gar nicht berichtet.

Tatsachenbehauptung oder Meinungsäußerung?

Ein Spiegel-Interview mit dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes Bruno Kahl zeigt, worum es bei dem Thema geht. Frage: „Erdoğan hat den Putschversuch gegen sich eindeutig der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen zugeschrieben. […] Steckte Gülen tatsächlich hinter dem Putsch? Antwort: „Die Türkei hat auf den verschiedensten Ebenen versucht, uns davon zu überzeugen. Das ist ihr aber bislang nicht gelungen.“ (SPIEGEL 12/2017, 18. März 2017). Für Giovanni di Lorenzo folgte daraus: „Die Bundesregierung geht davon aus, dass es eine Verschwörung von Teilen der Gülen-Bewegung gab, sie aber nicht zentral von der Gülen-Bewegung gesteuert wurde. Es war ein Putsch von Gülen-Mitgliedern, Kemalisten und Opportunisten.“ Das sei „der Erkenntnisstand der deutschen Dienste.“ (ZEIT, 6. Juli 2017). Dieser schludrige Umgang mit der Quelle konnte für einmal den Presserat nicht überzeugen, und er sprach einen kritischen „Hinweis“ aus (Az. 0683/17/2-BA, 5. Dezember 2017).

Anders lief dagegen ein Verfahren, als der Presserat einen Beitrag über türkische Beweise für das Narrativ zu untersuchen hatte (Az. 0246/18/1-BA, 12. Juni 2018). Georg Mascolo und Christiane Schlötzer erkärten in der Süddeutschen Zeitung,  im November 2017 sei „in Deutschland einer der nach türkischen Angaben führenden Putschisten zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben“ worden: Adil Öksüz solle „ein enger Vertrauter des in den USA lebenden türkischen Predigers Gülen“ sein und in der Nacht des Putsches „von einem Stützpunkt aus Schießbefehle für die Soldaten und die Bombardierung des Parlaments durch türkische Kampfjets befohlen“ haben. Anders als in vielen anderen Fällen habe „die Türkei den Deutschen hier Beweise übermittelt – die Suchorder geht heraus.“ (17. Februar 2018).

Meine Rückfrage zu den „Beweisen“ wurde als eine „einfach gelagerte“ Beschwerde mit dem Ergebnis „unbegründet“ behandelt. Argumentativ lief das so: Die SZ postulierte mit Bezug auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs von 2004 einen „verständigen Durchschnittsleser“. Dieser lese: „[Person x] soll die Bombardierung des Parlaments befohlen haben“ sowie „die Türkei hat den Deutschen hier Beweise übermittelt“, und verstehe, dass keineswegs Beweise mit Bezug auf einen solchen Einsatzbefehl oder überhaupt eigentlich „Beweise“ gemeint seien. Dazu wird dann noch vom stellvertretenden Vorsitzenden des Beschwerdeausschusses, der eine „Vorsitzendenentscheidung“ traf, haarklein erläutert: „Die Anforderung an ‚Beweise‘ im Hinblick auf eine Aufenthaltsbestimmung sind nicht zwingend gleichzusetzen mit ‚Beweisen‘ für eine Teilnahme am Putschversuch in der Türkei, sondern auch im Sinne von Indizien zu verstehen.“ Die Chefredaktion der SZ wird mit der Entscheidung des stellvertretenden Vorsitzenden, eines Vertreters des VDZ, einverstanden sein. Unentschieden ist bisher, ob sie diese rückwirkende Neuinterpretation von „Beweisen“ als „Indizien“ an ihre Leserschaft weiterreichen wird.

Eine Wendung in der Debatte?

Gegenüber dieser presseethischen Errungenschaft überraschen drei Artikel der Journalistin Inga Rogg in der Neuen Zürcher Zeitung. Sie ist durch ihr Buch „Türkei, die unfertige Nation. Erdoğans Traum vom Osmanischen Reich“ bestens ausgewiesen und schreibt, bis  heute sei nicht geklärt, welche Rolle der Generalstabschef der Armee Akar „während der Putschnacht vor zwei Jahren spielte.“ (NZZ, 12. Juli 2018) Endlich erfahren die Leser: „Bis zu 16 000 [gemeint sind allerdings: 160 000] Personen verloren in den letzten zwei Jahren ihre Stellen und ihre Existenz.“ (NZZ, 11. Juli 2018; vgl. auch im Buch, S. 99, sowie Amnesty International, Weathering the Storm; dort auch Informationen über betroffene Medien und Journalisten). Nachdem in den Berichten und Kommentaren im Umfeld der türkischen Wahlen die politische Verfolgung der Gülen-Bewegung kaum erwähnt worden war, gibt es jetzt sogar den „frommen, sonst aber unbescholtenen Gülen-Anhänger“ (NZZ, 20. Juli 2018). Die von Thomas Petersen beschriebene Situation „Unsere Massenmedien beschäftigen sich fast ausschließlich mit den Journalisten. Andere Menschen scheinen sie nicht zu interessieren“ darf man insofern ein wenig optimistischer einschätzen.

Ich selbst habe kürzlich die journalistische Begleitung der politischen Entwicklungen in der Türkei als „ein fast unüberschaubares kommunikationswissenschaftliches Studienfeld“ bezeichnet (Geleitwort zu „Kein Zurück mehr von der Demokratie. M. Fethullah Gülen“, hg. v. Faruk Mercan und Arhan Kardas, 2017; vgl. ein Interview mit dem Hg.). Entsprechende Forschungsarbeiten wären nicht nur wünschenswert, sondern dringlich.

Bildquelle: pixabay.com

 

Zum Thema auf EJO:

Die Türkei im präfaktischen Nebel 

War es Gülen? – Journalisten und Erdogans Narrativ

 

 

 

 

 

 

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