War es Gülen? – Journalisten und Erdogans Narrativ

31. August 2016 • Qualität & Ethik • von

Hat die Gülen-Bewegung wirklich den Putschversuch  in der Türkei zu verantworten? Westliche Journalisten übernehmen allzu bereitwillig Erdogans Narrativ, meint der Erfurter Theologe Christoph Bultmann.

turkey-1562967_1280Seit dem 16. Juli 2016, 00:24 Uhr, scheint es klar zu sein, wer für den gescheiterten Putsch in der Türkei verantwortlich war: „Direkt aus dem dpa-Newskanal“ meldete zum Beispiel die Süddeutsche Zeitung unter SZ.de: „In einem Interview des Senders CNN Türk hat der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Anhänger des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen für den Putschversuch verantwortlich gemacht.“ Der Kreis schließt sich (vorerst) mit einer unscheinbaren Meldung der Agentur Reuters zum Beispiel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 25. August 2016: „Die Türkei hat bei den USA nach Angaben des Aussenministeriums in Washington formell die Auslieferung des Predigers Fethullah Gülen beantragt. Dabei gehe es allerdings nicht um Vorfälle, die mit dem gescheiterten Putsch im Juli in Zusammenhang stünden, erklärte ein Sprecher am Dienstag. […]“

Wer in den Tagen nach dem 16. Juli in Blättern wie der Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Die Welt, Neue Zürcher Zeitung oder Financial Times nach Artikeln suchte, welche die Zuschreibung des Putschversuchs an Anhänger von Gülen als türkische Regierungspropaganda zurückgewiesen hätten, suchte vergeblich. Am 5. August 2016 konnte sich die Süddeutsche Zeitung immerhin dazu durchringen, ein Interview mit dem im Ruhestand lebenden türkischen Verfassungsrichter Yekta Güngör Özden zu publizieren, in dem der Jurist auf die Eingangsfrage „Herr Özden, wer steckt hinter dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli?“ antwortete: „Unsere gleichgeschalteten Medien zeigen auf Fethullah Gülen, aber das heißt nicht, dass Gülen es war. Wir sagen in der Türkei: Das Auge glaubt dem, was es sieht, das Ohr dem, was es hört. Bis ich konkrete Beweise sehe, kann ich nur spekulieren, und spekulieren will ich nicht.“

Das Votum macht schlagartig den Unterschied zwischen einem Juristen und einem Journalisten deutlich: Journalisten spekulieren gerne, und wenn es um eine religiöse Bewegung geht, spekulieren sie gerne über böse Absichten. Denn wer ist in der säkularen Moderne eigentlich noch religiös? Dass die Verantwortung für einen Putschversuch erst dann aufgeklärt ist, wenn „konkrete Beweise“ für die Verantwortung spezifischer Akteure vorgelegt worden sind, ist offenbar nur einem Juristen bewusst.

Diese These mag und soll in der Tat provozieren. Der Autor würde sich gerne korrigieren lassen. Eine umfassende Inhaltsanalyse zur Berichterstattung über die Türkei und im Besonderen über die Gülen-Bewegung in den Wochen nach dem Putschversuch braucht selbstverständlich ihre Zeit. Aus der Kolumne von Yavuz Baydar (Süddeutsche Zeitung vom 19.8.) war zu erfahren, dass sich derweil nach Angaben des türkischen Premierministers Binali Yildirim – nach zunächst  40 029 Festnahmen – noch 20 355 Personen in der Türkei unter dem Verdacht der Verantwortung für den Putschversuch in Haft befinden, dass 79 000 Personen aus ihren Berufen „entfernt“ und 1125 NGOs geschlossen wurden, usw. – alles im Zeichen der Bekämpfung der Gülen-Bewegung, die nach regierungsoffizieller Darstellung schon seit 2014 als eine „Terrororganisation“ gilt.

Die Regierung zerstörte also gezielt die wirtschaftliche und gesellschaftliche Existenz von zehntausenden Familien. Darf man unter diesen Bedingungen erwarten, dass im Journalismus etwas genauer hingeschaut wird, was eigentlich die Lehre des Islam ist, die Fethullah Gülen seit dem Beginn seiner Predigttätigkeit in Izmir 1966 entwickelt hat? Wie viele Journalisten haben seit dem 16. Juli wie viele Seiten der Schriften Gülens gelesen, bevor sie sich, wie Özlem Topçu in der ZEIT vom 28. Juli, über den „verklärenden Blick der Europäer auf die Gülen-Bewegung“ beklagen? Wie viele haben sich etwa mit der Studie von M. Hakan Yavuz, Toward an Islamic enlightenment. The Gülen movement (Oxford und New York, 2013) befasst, bevor sie, wie Amalia van Gent in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. August, ihren Lesern erklären, „der Ruf des in der ostanatolischen Stadt Erzurum geborenen Predigers wäre vermutlich nie über den engen Raum seiner Heimatstadt hinausgelangt, hätte es 1980 nicht den dritten Militärputsch gegeben“? Izmir liegt nicht gerade in Ostanatolien. Warum datiert der einzige Treffer für die Suchwörter „Gülen“ und „Abant“ im Archiv der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 9. Oktober 2008 und im Archiv der Süddeutschen Zeitung vom 23. Mai 2009, obwohl die „Abant Platform“ der Gülen-Bewegung seit 1998 ein wichtiges Diskussionsforum in der Türkei war? Darf man erwarten, dass Journalisten die Darstellung der Gülen-Bewegung als „Geheimbund“ (Mafia, Scientology, Opus Dei wären hier in Pressearchiven zu googeln) überprüfen, bevor sie sie weiterverbreiten? Warum sprechen Journalisten von der „dunklen Seite“ der Gülen-Bewegung, ohne ihrem Publikum mitzuteilen, was denn ihre „helle Seite“ sei? Warum wird nicht recherchiert, was wir über die „Unterwanderung“ des Staates durch die Gülen-Bewegung wissen? Welche staatsgefährdenden „Parallelstrukturen“ gibt es? Wer macht seit dem 15. Juli das türkische Militär als eine Festung der „Gülenisten“ aus, wer stellt die „Gülenisten“ als Verschwörergruppe von Offizieren in hermetisch dichter Abgrenzung von „Kemalisten“ dar, und wer sieht diese „Gülenisten“ in einer „Allianz“ mit den „Kemalisten“ einen Putsch planen?

„Und wenn Erdogan recht hat?“ fragt Michael Martens in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 19. Juli. Bei jedem Detektivroman gilt die Regel „you have to keep an open mind“! Wenn Erdogan recht hätte, wäre es wohl die Verpflichtung von Journalisten festzuhalten, nach welchen rechtsstaatlichen Kriterien er das beweisen muss, nach welchen menschenrechtlichen Standards die Verantwortlichen für den Putschversuch zu behandeln sind und nach welchen grundrechtlichen Standards Bürger der Türkei vor kollektiver Entrechtung zu schützen sind. Doch die Medien in Deutschland vernebeln die Probleme eher. So verhilft Martens dem türkischen Kolumnisten Mustafa Akyol zu einem Auftritt. Der wiederum sagt, die Behauptung, „die Gülenisten“ stünden hinter dem Putsch, sei „keine verrückte Verschwörungstheorie“, sondern „höchst plausibel“ – ohne freilich, wie Martens selbst notiert, nähere Belege zu nennen. Mit demselben Zitat führt auch die Autorin Elif Shafak in einem Gastbeitrag in der Financial Times vom 22. Juli Akyol an, um dann zu erklären: „Turkish liberals and democrats will never support the ambitions of the Gulenist army officers […].“ Was ist der Wert einer Theorie ohne Belege? Warum wird Akyol in beiden Zeitungen als eine gewichtige Stimme präsentiert? Wo ist die argumentative Substanz von Akyols Meinungsbeitrag, den man in Originalversion in der New York Times vom 22. Juli nachlesen konnte – dort übrigens geschickter arrangiert in einer Sequenz, in der dann am 24. Juli ein Beitrag von Ibrahim Kalin, dem Sprecher von Präsident Erdogan, und am 25. Juli ein Beitrag von Fethullah Gülen folgen. Der Fairness halber ist zu ergänzen, dass Martens in seinem Artikel die Perspektive erweitert und weitere Gesprächspartner und Quellen nutzt. Zum populärsten Gewährsmann für die Theorie der „Unterwanderung“ des türkischen Staates durch die Gülen-Bewegung, Ahmet Sik, notiert er, dessen Buch habe „viele Schwächen, denn für seine Behauptung liefert Sik keine handfesten Anhaltspunkte.“ Ganz ähnlich kennt man diese Kritik an Sik aus dem bereits genannten Buch von Yavuz – doch das hindert offenbar Journalisten nicht daran, die Thesen von Sik zu übernehmen. Ob indessen Erdogan recht hat oder nicht, wird aus dem Beitrag um keinen Schritt klarer. Es wird nur die Disposition dazu erzeugt, Erdogan recht zu geben.

„Erdogans großer Sprung nach vorn“ – in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 2. August erreichte Martens dann endlich das Analyse-Niveau, das die Leserschaft seit dem Putschversuch hätte erwarten dürfen. Er berichtete darüber, „was manche AKP-Politiker in Ankara hinter vorgehaltener Hand durchaus eingestehen: In der Regierung ist man sich darüber im Klaren, dass die Gülen-Bewegung nicht allein für den Putschversuch verantwortlich war. Man übertreibt ihre Rolle aber systematisch, da sich die AKP nicht zutraut, zugleich gegen Gülenisten, Kemalisten und andere Gegner loszuschlagen. Zudem hat das Narrativ von der Alleinschuld des Predigers Fethullah Gülen den Vorteil, dass die im Kemalismus verwurzelte größte Oppositionspartei CHP es ebenfalls unterstützen kann – ja, sogar muss. Denn Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu hat kein Interesse daran, dass eine mögliche Mittäterschaft kemalistischer Kräfte, also seiner Klientel, zur Sprache kommt.“

Wer eine Bestätigung für die letztere These sucht, konnte in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2. August ein Interview mit Kilicdaroglu lesen. Der Journalist Marco Kauffmann Bossart fragte: „Die Regierung hat den islamischen Prediger Fethullah Gülen als Drahtzieher des Coups ausgemacht. Teilen Sie diese Einschätzung?“ Der CHP-Chef antwortet: „Die Hinweise, die vorliegen, deuten darauf hin.“ In diesem Fall fragte der Journalist sogar mehrfach nach, und die Antworten, die er bekam, sind beeindruckend, es lohnt sich, das Interview nachzulesen. Dennoch bleibt festzuhalten: Auch wer behauptet, dass die Gülen-Bewegung „nicht allein“ für den Putschversuch verantwortlich war, behauptet weiterhin, dass sie einen Teil an Verantwortung trägt. Noch gibt es dafür keine „konkreten Beweise“, wie sie der frühere Verfassungsrichter Özden sehen will.

Lange Rede kurzer Sinn: Die türkische Regierungspropaganda durchsetzt im Sinne einer Gleichrichtung der Medien die Berichterstattung über den Hintergrund des Putschversuchs. Weshalb lehnen sich die Journalisten so offensichtlich an das Narrativ der Regierung an? In der Süddeutschen Zeitung vom 19. August schreibt Louisa Seeling: „Die Festnahme- und Entlassungswelle ist erschreckend, doch dem Gülen-Netzwerk kann auch keine bedingungslose Sympathie entgegengebracht werden.“ Ist etwa „bedingungslose Sympathie“ die Voraussetzung dafür, die Grundrechte der Religionsfreiheit und Nichtdiskriminierung zu verteidigen? Die Gülen-Bewegung ist bei allem, was sie in der türkischen Politik sonst noch sein mag, ein Netzwerk von Anhängern eines muslimischen Predigers, der den Islam in Anknüpfung an die Tradition des Sufismus versteht und seit langen Jahren „Schlüsselkonzepte“ dieser islamisch-mystischen, aber durchaus auch praktisch orientierten Glaubensrichtung erläutert hat. Aber wer ist in der säkularen Moderne eigentlich noch religiös?!

Bildquelle: pixabay.com

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1 Responses to War es Gülen? – Journalisten und Erdogans Narrativ

  1. Adennauer sagt:

    Was ist mit der Nato?
    Wenn man zurückblickt ware alle Miltärputsche in der Türkeii immer mit Beteiligung der Nato (Gladio-Strukturen).
    Weshalb hat Erdogan mit 7000 Mann die Nato Hauptbasis Incirlik geblockt, den Strom dort abgedreht und dies als Zentrum des Putsches ausgemacht?
    Es wäre für mich verwunderlich wenn Gülen so große Teile des Offizierscorps unterwandert hätte, da diese traditionell Kemalisten sind.
    Lt. russischer Medien haben die Russen Erdogan auf Grund abgefangener Funksprüche gewarnt. Deshalb mußte der Putsch ein paar Stunden vorverlegt werden und ging deshalb daneben.

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