Wie Reporter ohne Grenzen, das Maison des Journalistes und das Onlineportal Guiti News geflüchteten Journalisten den Weg zu einem Neustart im Exil in Frankreich ebnen.
Beraat Gokkus ist Journalist in Istanbul. Dort arbeitet er als Redakteur und Reporter unter anderem für die Zeitung Zaman, die der Gülen-Bewegung zuzuordnen ist, und für die regierungskritische Zeitung Meydan. Bis zum Sommer 2016.
In der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 findet in Istanbul und Ankara ein Putschversuch statt, der auch zahlreiche Inhaftierungen von Journalisten und Schließungen von Redaktionen zur Folge hat. Fünf Tage nach dem gescheiterten Putsch beschlagnahmt die Polizei auch die Redaktion von Beraat Gokkus. Er ist zu dieser Zeit allerdings mit seiner Lebensgefährtin im Italienurlaub. „Ich hatte die Türkei eigentlich nur für zwei Wochen verlassen“, sagt er. Eine Rückkehr in seine Heimat ist jedoch zu gefährlich: Denn viele seiner Kollegen werden im Juli 2016 verhaftet, im Gefängnis droht Folter. Einige von ihnen fliehen; Journalisten können sie in der Türkei nicht mehr sein. Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen (ROG) saßen allein 2019 22 Journalisten in der Türkei in Haft, Dutzende weitere Festnahmen werden vermutet. Die Organisation bezeichnete das Land darüber hinaus als „größtes Gefängnis für Journalisten auf der Welt“.
„Leider gibt es in der Türkei momentan keine freie Meinungsäußerung. Deshalb habe ich beschlossen, in Europa zu bleiben“, erklärt der 33-Jährige. „Ich spreche Französisch. Für die Integration und den Alltag in einem fremden Land ist die Sprache wichtig, deshalb bin ich von Italien aus nach Frankreich gegangen.“
Heute ist Beraat Gokkus Journalist in Paris.
Der Weg nach Frankreich und zum Asylantrag
Da Beraat Gokkus wegen seines Urlaubs ein Visum hatte, war für ihn die Einreise nach Frankreich kein Problem. Vielen anderen Journalisten auf der Flucht ist Reporter ohne Grenzen (ROG) eine Hilfe. Die NGO mit Hauptsitz in Paris setzt sich für den Schutz von Journalisten ein – möglichst mit Hilfsmaßnahmen im Herkunftsland. Wenn die Sicherheit von Journalisten dort nicht mehr gewährleistet ist, hilft ROG bei der Suche nach einem sicheren Aufnahmeland, bietet finanzielle Förderung für den Neuanfang und stellt Unterstützungsschreiben für den Visums- und Asylantrag zur Verfügung. Diese Hilfe hat oftmals zu hohe Erwartungen vor dem Neustart in Europa zur Folge. „Daher ist es uns sehr wichtig, die Journalisten wissen zu lassen, welch langer Prozess sie bei einer Flucht ins europäische Exil erwartet“, sagt Victoria Lavenue, Head of Assistance bei ROG.
Auch Beraat Gokkus brauchte Geduld: Drei Mal musste der Journalist insgesamt bei OPFRA vorsprechen, der Behörde, die sich in Frankreich um Asylanträge kümmert. Dann hieß es: Zwei Jahre auf das Asyl warten. „In dieser Zeit hatte ich keine Arbeitserlaubnis, also habe ich gewartet, gewartet und gewartet. Das war das Schlimmste für mich“, schildert Beraat Gokkus die Situation.
Ein Dach über dem Kopf
Sind geflüchtete Journalisten erst einmal in einem sicheren Aufnahmeland angekommen, sind ROG die Hände gebunden: Vor Ort muss die Organisation die Journalisten an andere NGOs verweisen, um zum Beispiel einen Job zu finden. Denn das ist ROG ein großes Anliegen: „All unsere Arbeit wäre umsonst, wenn die Journalisten ihre Arbeit nicht weiter ausführen können“, sagt Victoria Lavenue. Auch bei der Suche nach einem Zuhause können sie und ihr Team von ROG nicht mehr behilflich sein. Zu lang ist die Liste von Journalisten in Gefahr.
Nachdem Beraat Gokkus sich auf die Suche nach einer Wohnung gemacht hatte und gescheitert war, fand der 33-Jährige schließlich Unterschlupf im Maison des Journalistes im Südwesten von Paris. 14 Zimmer bietet die Einrichtung für Journalisten, die ihr Land verlassen mussten, um frei berichten zu können. Verschiedene Medien, die Stadt Paris, die französische Regierung sowie die EU finanzieren den Verein. Seit der Gründung des Hauses der Journalisten im Jahr 2002 fanden mehr als 300 Medienschaffende unterschiedlicher Herkunft, Religion und politischer Einstellung dort ein vorübergehendes Dach über dem Kopf. Sobald der Asylantrag genehmigt wird, müssen die dort wohnhaften Journalisten Platz machen für den Nächsten auf der langen Warteliste. Das Maison des Journalistes hilft ihnen dann bei Suche nach einer eigenen Wohnung. Da sich der Verein als „Ort des Wiederaufbaus“ versteht, bietet er nicht nur einen kostenlosen Unterschlupf, sondern auch eine umfassende Betreuung samt Sprachkursen oder der Unterstützung bei der Jobsuche.
„In Frankreich bin ich ein freier Journalist“
Und diese gestalte sich angesichts der Krise des Journalismus nicht gerade leicht – nicht für französische Journalisten und schon gar nicht für Personen, deren Muttersprache nicht Französisch ist, schildert Victoria Lavenue die Lage. Auch Beraat Gokkus fand sich in Paris zunächst nicht als Journalist wieder: „In der Türkei habe ich über Flüchtlinge geschrieben. Eines Tages fand ich mich selbst in der Schlange von Flüchtlingen wieder und da waren andere Menschen, die plötzlich über mich schrieben.“
Als er nach zwei Jahren seine Arbeitserlaubnis in den Händen hielt, traf der Journalist in Paris auf Nina Gheddar. Die 29-Jährige gründete im Januar 2019 gemeinsam mit einem afghanischen Journalisten das Medium Guiti News. Auf dem Onlineportal dreht sich alles um das Thema Migration. Das Besondere: Das derzeit 18-köpfige Redaktionsteam setzt sich zusammen aus neun französischen und neun Exil-Journalisten, die in Tandems gemeinsam Geschichten schreiben. Für dieses multikulturelle Konzept gewann Nina Gheddar mit ihrem Team bereits Preise. Finanziert wird die Redaktion vor allem über Spenden, auch ein Abo-Modell ist in Planung. „Guiti News gibt mir die Möglichkeit, meinen Job auszuüben und auf Französisch zu schreiben. Hier bin ich ein freier Journalist“, sagt Beraat Gokkus. „Das ist eine Chance für mich, das gibt mir Hoffnung.“
Den Ton der Migrationsberichterstattung verändern
Nina Gheddar hatte einen sicheren Job, bevor sie Guiti News gründete. Zufrieden war sie damals aber nicht: „Alle Journalisten in Frankreich haben den gleichen sozialen Background“, erklärt sie und klagt über die festgefahrenen Strukturen und den zunehmenden Sensationalismus der Medien. Vor allem die Berichterstattung über Flucht und Migration sei klischee- und angstbehaftet. Dieser Ansicht ist auch der französische Journalist Tomas Statius: „Wir sprechen immer über den Einfluss von Flüchtlingen auf die Gesellschaft, über Flüchtlinge als Zahlen. Aber wir hören fast nie die Perspektive der Flüchtlinge selbst. Wir haben keinen Zugang zu ihren Geschichten.“ Der Grund: die fehlende Diversität in französischen Redaktionen und Journalistenschulen. Daher lobt er die Arbeit von Guiti News: „Dass die Journalisten dort ihre Geschichten erzählen, ist wichtig – sowohl für die Vielfalt in den französischen Medien als auch für die Gesellschaft.“ Dass die Flüchtlinge selbst in der Migrationsberichterstattung weitgehend als Statisten erscheinen, ist auch ein Ergebnis einer kürzlich erschienenen Studie des European Journalism Observatory, in der untersucht wurde, wie Medien in 16 europäischen Ländern und in den USA über Migration und Flucht berichten. Nur in einem Viertel der in der Studie analysierten Berichte aus 17 Ländern sind sie die zentralen Akteure, in 18 Prozent allerdings lediglich als große und anonyme Gruppe. Als Individuen oder kleine Gruppen (z. B. Familien) prägen Migranten und Flüchtlinge nur acht Prozent der Berichte – während Bürger und zivilgesellschaftliche Akteure in den Aufnahmeländern einen Anteil von 18 Prozent haben und Regierungsakteure gar in 37 Prozent der Artikel im Mittelpunkt stehen.
Anders als die Mehrheit der französischen Medien über Flüchtlinge zu berichten, hintergründiger, vielfältiger – das liegt Nina Gheddar am Herzen. „Wir sind nicht nur Reporter, sondern Menschen, die den Ton der Berichterstattung verändern wollen“, erklärt sie die Mission ihres Onlineportals. Dass Beraat Gokkus von Beginn an Teil dieses Projektes sein konnte, macht ihn glücklich. Inzwischen ist er sogar auch als freier Mitarbeiter für die Deutsche Welle und den paneuropäischen Sender Euronews tätig. In Frankreich kann er endlich wieder das tun, was für ihn Berufung ist: Journalismus. „Als Kind war es nicht mein großer Traum, Journalist zu werden. Jetzt ist es ein großartiger Job für mich und ich komme nicht davon los.“
Franziska Weil hat an einer Recherchereise des Instituts für Journalistik der TU Dortmund teilgenommen. Zwölf Studierende sind im November 2019 nach Paris gereist, um mit Journalisten, französischen Studierenden, NGOs und weiteren Organisationen über das Thema „Medien und Migration in Frankreich“ zu sprechen. Die Recherchereise wurde von PROMOS gefördert.
Schlagwörter:Frankreich, Guiti News, Migrationsberichterstattung, Pressefreiheit, Reporter ohne Grenzen, Türkei