Über einen neuen Plural: “Journalismen”

1. März 2004 • Medienökonomie, Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Message, 3/2004

Die technologische Revolution hat die gegenwärtige Gesellschaft tiefgreifend verändert. Der Journalismus «kann sich dem nicht verschliessen und seine verlorengegangene Identität zurückgewinnen, er kann nur seine eigenen professionellen Identitäten vervielfältigen und differenzieren.» So erklärt sich der Titel des Essays: «Giornalismi» – «Journalismen», punktum.

Ein Plural, der weder im Italienischen noch im Deutschen existiert, den zu «erfinden» aber wohl überfällig war, um den neuen, «postrevolutionären» Gegebenheiten in der Medienbranche und in den Redaktionen gerecht zu werden.Dieser Plural ist jedenfalls so ewas wie der Ausgangspunkt für Angelo Agostinis Betrachtungen. Er berichtet und «erzählt» im besten Sinne des Wortes in seinem neuen Buch, wie sich die italienischen Medien in den letzten Jahrzehnten entwickelt haben, er porträtiert die Persönlichkeiten, die den Journalismus südlich der Alpen geprägt haben, und beschreibt die Ereignisse, die Italiens Mediensystem zu einem europäischen Sonderfall werden liessen.

Agostini ist Journalist und Medienexperte, lehrt an den Universitäten in Mailand und Bologna und leitet zugleich die Redaktion von «Problemi dell’informazione», Italiens einziger Fachzeitschrift, die der Journalismusforschung und dem Diskurs zwischen Medienpraktikern und -wissenschaftlern ein Forum bietet. Und natürlich weicht er der Kernfrage nicht aus, die zumindest ausserhalb Italiens fast alle Beobachter aufwerfen: Reicht das Quasi-Monopol, mit dem Berlusconi über das italienische Fernsehen verfügt – die drei wichtigsten Privatsender gehören zu seinem Medienimperium, über die drei Programme des Staatsfernsehens RAI herrscht er als Regierungschef skupelloser als all seine Vorgänger –, um die öffentliche Meinung in Italien zu kontrollieren? Ohne die schwierige Lage unterzubewerten, tendiert Agostini zu einem «Nein» als Antwort. Auch in Italien habe der Bürger Zugriff auf eine grosse Vielfalt an Medien. Der Einfluss des Fernsehens ist Agostini zufolge ohne Zweifel sehr stark, aber angesichts des multimedialen Informationsangebots nicht allumfassend.

Der Autor sieht – vorerst noch – die Tageszeitung in der Rolle des dominierenden Leitmediums, um sich in und über Italien politisch zu informieren. Er beschreibt sie als Mittel, «um sich die veränderliche Realität in ihrer Substanz und im Licht unveränderter Werte» zu erschliessen – Werte, die vor allem von Leitartiklern und Kolumnisten vermittelt würden, die mit ihren Kommentaren den italienischen Zeitungen zu ihrer Identität verhülfen und diese täglich neu «konstruierten». Tatsächlich ist es in Italien mehr als anderswo noch immer die Politikberichterstattung und auch die politische Ausrichtung, die einer Zeitung ihr «Gesicht» verleiht und ihr zu einer spezifischen Leser-Blatt-Bindung verhilft.

Agostini widmet sich auch ausführlich interessanten redaktionellen Entwicklungen und Experimenten. Ganz besonders beschäftigt er sich mit der erfolgreichsten italienischen Blatt-Gründung der letzten 50 Jahre, «La Repubblica». Die Zeitung im Tabloid-Format – eine linke Mischung aus Intelligenzblatt und Populismus –, die der legendäre Eugenio Scalfaro in den 70er Jahren lancierte, hat über Jahre hinweg stilbildend auf die Berichterstattungsformen in Italien gewirkt.

Alle Themen, die der Autor streift – die Rolle des Journalisten, das redaktionelle Marketing, die Heraufkunft des Online-Journalismus, aber auch Werbemarkt und Anzeigengeschäft – werden in ihrer evolutionären Entwicklung und Veränderung analysiert, und das ist vielleicht der eigentliche «Mehrwert», den Agostinis Buch bietet. In den letzten Jahrzehnten sind, so Agostini, trotz aller politischen Bindungen die Zeitungen in Italien ökonomisch unabhängiger geworden, und das habe «an den Fundamenten gewachsener Traditionen, Gewohnheiten und damit der journalistischen Kultur» gerüttelt. Gewiss ein Schlüsselwerk, um das Land und seine Medien besser zu verstehen. Aber auch wer Italien, seine Kultur und seinen Journalismus bereits gut kennt, wird das Buch mit Gewinn lesen.

* Angelo Agostini: Giornalismi – Media e giornalisti in Italia. Il Mulino, Bologna, 2004.

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