Das Verhalten der Medien – anscheinend fair

28. September 2005 • Ressorts • von

Deutsche Welle, 28. September 2005

Wie haben die Medien über die letzten Wahlen in der Schweiz berichtet? War die Berichterstattung einseitig? Hat sie die öffentliche Meinung beeinflusst? Haben die Medien nur Fakten vermittelt und der Hoffnung Ausdruck gegeben, dass die Bürger mit Blick auf die zukünftige Rolle der Schweiz in Europa abstimmen werden? Eine kurze Analyse.

Das Thema: Die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes für die zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten.

Die Konsequenzen (sehr einfach ausgedrückt):

* Bei einem Ja zur Personenfreizügigkeit wird der Arbeitsmarkt für die Bürger der zehn neuen EU-Länder geöffnet. Das ist ein Teil der von der Schweiz unterzeichneten bilateralen Verträge, die momentan dazu dienen, das Risiko einer wirtschaftlichen Isolation auszuschliessen, ohne der EU wirklich beizutreten. Die Gefahren, vor denen sich viele Schweizer fürchten, sind Lohndumping und der Verlust der Arbeitsplätze an Ausländer, zusätzliche Belastungen für die Natur, für die soziale und innere Sicherheit des kleinen Landes und der Verlust der Exklusivität.

* Bei einem Nein droht die wirtschaftliche Isolation und Stagnation des Wirtschaftswachstums.

Das Resultat: Zur Erleichterung der Politiker und Ökonomen innerhalb und ausserhalb der Schweiz haben 56 % der Schweizer Stimmberechtigten ein Ja in die Urne gelegt.

Das kam unerwartet, war jedoch erhofft worden. Und das Abstimmungsresultat über die Öffnung des Schweizer Arbeitsmarktes für die zehn neuen Mitgliedsstaaten der EU im September 2005 zeigte, dass diese Hoffnung schliesslich Wirklichkeit wurde. Eine deutliche Mehrheit von 56 % der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger stimmten der Vorlage zu. Jetzt ist der Schweizer Arbeitsmarkt darauf vorbereitet, den „polnischen Klempner“ willkommen zu heissen – neben den weiteren Arbeitskräften aus den zehn neuen Mitgliedsstaaten Zypern, Tschechien, Estland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, der Slowakei, Slowenien und Polen, die der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten sind.


Das Verhalten der Medien

Die Schweizer Medien aus den deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Regionen waren einstimmig der Meinung, dass das Resultat überraschend sei, und die meisten Zeitungen berichteten nicht nur über ein Ja, sondern über ein deutliches Ja zur Personenfreizügigkeit. Ausserdem schienen auch die Medien dieses Resultat zu befürworten.

Es liegt auf der Hand, dass die Medien die öffentliche Meinung massgeblich beeinflusst haben, indem sie die Vor- und Nachteile sowohl einer Annahme wie auch einer Ablehnung eingehend schilderten. Die Medien haben auch prompt darauf hingewiesen, dass die Bürger diesmal nicht aus Angst um ihre eigene Situation abgestimmt, sondern die kurz- und langfristigen Auswirkungen auf die Identität, Wirtschaft und Entwicklung der Schweiz bedacht hätten.

Ausserdem haben die Printmedien nicht nur die politische und gesellschaftliche Einstellung zur Vorlage im Land dargestellt, sie haben sich auch bemüht, die Meinung der Auslandschweizer zur Thematik aufzuzeigen. Stichprobenartig wurden ihre Standpunkte vor und nach der Wahl aufgezeigt. Interviews wurden geführt mit einigen Schweizer Botschaftern, überall im Land mit den Leitern von gesellschaftlichen Gruppierungen, politischen Parteien und Organisationen, mit dem Mann von der Strasse – Personen der oberen, mittleren und unteren Bildungsschicht – und mit Experten aus den Bereichen Politik und Sozioökonomie. Die Medienberichte waren neutral und sachlich.

Gemäss dem auflagenstarken Blick war die deutliche Zustimmung „ein Sieg für die Tapferen“ und eine „Niederlage für die Angstmacher“. Das Blatt hat ausserdem betont, dass zum ersten Mal bei einem europäischen Referendum die Angst vor Europa bei den Gegnern der Vorlage keine Rolle gespielt habe.

Der Tages-Anzeiger schrieb, das „überraschend deutliche“ Ja „entfache“ die Diskussion um den Beitritt zur EU.

Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) pflichtete dem bei und fügte hinzu, dass sich die Schweizer Stimmbürger zum dritten Mal klar für den bilateralen Weg mit der EU ausgesprochen hätten. „Die Schweiz hat gezeigt, dass sie ein zuverlässiger Vertragspartner für eine EU in der Krise ist, sie ist aber ein Partner, der seine Souveränität bewahren möchte“, schrieb die NZZ.

Die Tatsache, dass Inhalt und Perspektive der Berichterstattung landesweit ähnlich war, zeigt auf, dass die Medien zwar den Eindruck hinterliessen, eine Annahme der Wahl zu befürworteten, aber in Wirklichkeit die herrschende Stimmung im Land klar und präzise wiedergaben.

Die Schweizer Medien haben nicht nur über den Ausgang der Wahlen berichtet, sie haben auch die Diskussionen um die EU-Mitgliedschaft, die wahrscheinlich in der Zukunft geführt werden, vorweggenommen.

Unter dem Strich haben uns die Medien – unter Einbeziehung von Experten, Politikern, Soziologen und Menschen von der Strasse – dieses Mal gerecht und unvoreingenommen informiert.

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