Legendenbildung

12. November 2009 • Ressorts • von

Erstveröffentlichung: Die Furche

Kaum zu glauben, dass alles 20 Jahre her ist: Die Medien haben zumindest in Deutschland über den Fall der Mauer so umfangreich berichtet, als hätte sich das Jahrhundert-Ereignis gestern zugetragen. Dabei neigen sie allerdings dazu, ihre eigene Rolle zu verklären und Geschichte zu klittern.

Das Ende des „antifaschistischen Schutzwalls“, wie die monströse Grenzanlage euphemistisch in der DDR genannt wurde, sei – – so der Mythos – vor allem dem West-Fernsehen zu danken, das mit seinen Nachrichten, aber auch mit seinen Reklame-Verlockungen wie ein trojanisches Pferd in den Osten eindrang und dort die repressiven Regime zu Fall brachte. Wäre das so simpel, dann hätte die friedliche Revolution, die Ost- und Mitteleuropa die Freiheit beschert hat, wohl in der DDR beginnen müssen, denn mangels Sprachbarriere wurde sie viel unmittelbarer mit TV-Programmen aus der Bundesrepublik berieselt und infiltriert als die anderen Satelliten der damaligen Sowjetunion.

Tatsächlich herrschte in Russland, Polen und anderswo jedoch längst Glasnost, bevor die Ostdeutschen Honecker und Krenz davonjagten. Das soll nicht heissen, dass die Medien, zumal das Fernsehen, gar keine Rolle gespielt hätten. Medienwirkungen hat es fraglos gegeben – aber eben weniger direkt, als es viele Journalisten und auch so manche Medienforscher wahrhaben wollen.

Mich jedenfalls hat es schockiert, dass sogar im wohl grössten Medienmuseum der Welt – dem Newseum in Washington, das im vorigen Jahr eröffnet wurde – munter an der Legende gestrickt wird. Dies und der Mauerfall selbst sind wiederum ein willkommener Anlass, daran zu erinnern, dass heutzutage eine kaum minder monströse Grenzbefestigung die USA von ihrem südlichen Nachbarn trennt. Sie wurde aber nicht etwa von den Mexikanern gebaut, um sich vor den „Imperialisten“ im Norden zu schützen. Herren und Architekten des Schandmals sind die Amerikaner, die sich selbst und ihre Nachbarn terrorisieren – im Wahn, so lasse sich Terror und illegale Einwanderung bekämpfen. Warten wir also ab, wie lange das Fernsehen braucht, bis es auch diesen eisernen Vorhang schleift.

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