“Jede Kultur hat ihre Tabuzonen”

20. Januar 2015 • Pressefreiheit, Qualität & Ethik • von

Für die einen die Religion, für die anderen der nackte Körper. Der emeritierte Journalistik-Professor Michael Haller erinnert im Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung daran, dass jede Kultur ihre Tabuzonen hat. Er plädiert dafür, nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo nicht einfach zur medialen Tagesordnung zurückzukehren.

“Ich bin Charlie” – Gilt das auch für Sie?

Nach dem Pariser Terroranschlag will man sich natürlich mit den Opfern solidarisieren. Auf den zweiten Blick sind aber auch Bedenken angebracht: Mit was identifiziere ich mich? Mit dem Gebot der Meinungsfreiheit? Mit dem beißenden Spott über Religionen? Für fast schon obszön halte ich es, dass Politiker und Interessengruppen den Slogan für PR-Kampagnen nutzen. Oder dass sich Pegida mit dieser Formel als Verfechter der Meinungsfreiheit aufspielt.

Steht ein neuer Karikaturenstreit bevor?

Vielleicht. Jedenfalls ist es höchste Zeit für eine medienethische Diskussion. Wir können nicht ein paar Wochen lang “Wir sind Charlie”-Plakate schwenken und danach zur Tagesordnung übergehen. Der Journalismus müsste dann über seine eigenen Vorurteile selbstkritisch reflektieren.

Sollte es ein Recht auf Blasphemie geben, wie es die Zeichner von Charlie Hebdo für sich beanspruchen?

Darin zeigt sich der westliche, auf das Individuum zentrierte Freiheitsbegriff. In anderen Kulturen ist das anders. Viele Cartoonisten tun nun so, als könnten sie einfach die Tür zum Rest der Welt zumachen, nach dem Motto: egal, was die da draußen denken. Diese Haltung ist in einer globalisierten Welt nicht mehr zeitgemäß. Schließlich hat jeder Kulturraum Tabuzonen und No-go-Areas, auch der Westen. Erinnern Sie sich an den Aufschrei in den USA bei Janet Jacksons Busenblitzer 2004? Und was ist mit Bildzensur von Google, Instagram und Facebook, wenn was Nacktes auftaucht? Das sind vergleichsweise lächerliche Tabus, die wir gleichwohl respektieren.

Tabubruch ist also immer fragwürdig?

Ich denke, die kalkulierte Tabuverletzung ist legitim. Man muss aber jedes Mal abwägen, ob sie in einem verantwortbaren Verhältnis zu ihren absehbaren Folgen steht. Die Menschenwürde und das friedliche Zusammenleben sind die höchsten Güter. Provokationen um ihrer selbst willen sind bei uns vom Recht der Meinungsfreiheit zwar gedeckt, sie stehen aber nicht im Dienst der Aufklärung.

Interview: Nina May

 

Erstveröffentlichung: Hannoversche Allgemeine Zeitung vom 15. Januar 2015, Seite 3

Bildquelle: blu-news.org/flickr

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