„Informatorischer Leerlauf“ in der Corona-Berichterstattung

7. April 2020 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Der Medienforscher Michael Haller zieht Zwischenbilanz und konstatiert: Die Newsmedien können mit „Ungewissheit“ nicht umgehen.

In einem Beitrag, der auf der Website des Europäischen Instituts für Journalismus und Kommunikationsforschung publiziert wurde, setzt sich der Medienforscher Michael Haller gründlich mit Stärken und Schwächen der Berichterstattung über das Virus auseinander. Er lässt keinen Zweifel daran, dass aus seiner Sicht den Bürgerinnen und Bürgern angesichts der „Überfülle an redundanten, ungesicherten und kurzlebigen Nachrichten“ einiges „an Medienkompetenz abverlangt“ werde, sofern sie sich angemessen und zutreffend ins Bild setzen wollten. Die Mediennutzer seien „overnewsed but underinformed“. Der „informatorische Leerlauf“ mache es vielen Menschen „noch schwerer, die als existenzbedrohend erlebte Ungewissheit auszuhalten.“ Er möchte mit seinem Aufsatz eine Hilfestellung zum Funktionsverständnis der Medien geben – keine Gebrauchsanweisung, sondern einen medienkritischen Ariadnefaden durch das Labyrinth der Meldungen, Meinungen und Prophetien.

Haller hat an der Universität Leipzig 1993 den Journalistik-Studiengang aufgebaut und über Jahrzehnte hinweg mit seiner Forschung, aber auch mit seinen Lehrbüchern und Fachzeitschriften („Sage & schreibe“, „Message“) den Diskurs über Journalismus geprägt.

In seiner Analyse unterscheidet er die Sachverhalts-, die Kontext- und die Deutungsebene. Auf der Sachverhaltsebene produzierten die Medien während zwei Monaten viel Desinformation. Nichtssagende Zahlen und irreführende Statistiken hätten bei den Mediennutzern Angst- und Panikgefühle erzeugt. Offenbar fiel es Journalisten schwer, „fundierte, glaubwürdige Primärquellen“ zu identifizieren und von „irreführendem Gerede“ zu unterscheiden. Als Beispiel nennt er unter anderen die früheren Virologen Mölling und Wodarg. In der Rolle der Systemkritiker brachten sie Vorurteile und konnten zwischen Sachverhalt und Meinung nicht hinreichend trennen. Von daher gibt Haller Hinweise, wie Leserinnen und Leser Primärquellen finden und deren Sachaussagen einordnen können.

Haller stellt deutlich heraus, dass die meisten Newsmedien während Monaten das Kernproblem übergangen hätten: die Mängel und Lücken in der Infrastruktur des Gesundheitswesens. Nicht eigentlich wegen der Virus-Epidemie, sondern wegen der mangelnden medizinischen Ausstattung sei der Shutdown unausweichlich geworden. Unkritisch hätten die meisten Newsmedien die Slalom-Strategie des Gesundheitsministers Spahn belobigt – und ausgeblendet, dass er noch Ende Januar für Deutschland keine Virus-Gefahr sehen wollte. Haller schreibt. „Die meisten Lokalblätter, die ich durchgesehen habe, hielten es offenbar nicht für nötig, die medizinische Ausstattung in den Klinken, Heimen und Praxen zu ermitteln (Recherche gehört laut Pressekodex zu den journalistischen Pflichten), die zuständige Behörden kritisch zu befragen (laut BVerfG wäre dies Bestandteil der ‚öffentlichen Aufgabe‘) und die Verantwortlichen zur Rede zu stellen (laut Landesmediengesetze gehört dies zur Kritik- und Kontrollfunktion).“

Auf der Deutungsebene sollten die Newsmedien nicht nur als Lautsprecher und Verstärker der Regierung mit ihrer Shutdown-Strategie wirken. Wichtig sei, urteilt Haller, dass auch begründete Bedenken und Einwände öffentlich zu Wort kommen. Erst in der Oster-Vorwoche hätten mehrere Medien auch Zweiflern Raum gegeben – meist in Form von Gastbeiträgen. Der öffentliche Diskurs sollte auch die „soziokulturelle Bedeutung“ und die „strukturellen Effekte“ der Corona-Krise diskutieren. Immerhin, schreibt Haller, käme jetzt in den Wochenmedien die Frage auf, ob die Regierungspolitik – der radikale Shutdown wurde als alternativloses Programm präsentiert – diese riskante Strategie korrigieren sollte zugunsten sozialverträglicherer Maßnahmen.

Hallers Aufsatz macht deutlich, dass in gesellschaftlichen Krisen der Journalismus selbst irritiert ist; dass er nicht aufklärt und Ängste mindert, sondern umgekehrt das Krisengefühl anheizt und verstärkt. Dies wird im Fall der Corona-Krise besonders deutlich. „Die Neuartigkeit des Virus und die Unerfahrenheit mit Pandemien dieses Typs in Europa“ habe „ein offenes Feld des Nichtwissens (Sachverhalte) und der Ungewissheit (Zukunft) vor sich“.  Indem die Medien diese Ungewissheit skandalisieren, bereiten sie den Nährboden für die zahllosen Verschwörungstheorien und Fake-Geschichten, die ein Millionenpublikum finden. Immerhin seien seit März verschiedene Faktenchecker-Teams an der Arbeit, um „Spreu vom Weizen zu trennen“.

Ob diese Krise – wie viele Essayisten derzeit prophezeien – zu einem sozialpolitischen Umbruch führen werde, wisse man nicht. Zu hoffen sei, meint Haller, dass während der kritischen Phase in der Nachosterzeit die Diskussion in den Medien sich verstärke. Viel Anregendes lese man schon jetzt, und erfreulich daran sei, „dass die Denkmuster der Systemtheorie, die bleischwer auf dem politischen Diskurs der letzten Jahrzehnte lagen, einer dynamischen Perspektive Platz machen“.

 

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