Fernsehen und Partizipation – ein Zukunftsmodell?

16. April 2012 • Digitales • von

Erste Ergebnisse der Begleitforschung zu nrwision 

Die Journalistik steht vor großen Herausforderungen. So viele Umbrüche, so viele Fragen, so viele Forschungsansätze  wie selten zu vor beschäftigen uns. Welche Medien werden zukünftig in welcher Intensität zu welchem Zweck genutzt? Wie verändern sich journalistische Berufsbilder und welche neuen, innovativen Formen der Partizipation werden sich auf Dauer etablieren? Die Antworten scheinen sich zu bündeln in der Feststellung: „Die Zukunft liegt im Internet“.

Wer beschäftigt sich schon noch mit dem alten, anscheinend sogar nicht im Trend liegenden Leitmedium Fernsehen? Ist  dieses Medium überhaupt tauglich, um neue Formen von Partizipation zu erproben? Oder noch grundsätzlicher: Ist das Fernsehen, auch wenn es noch so modern über Flachbildschirme angepriesen wird, in Zeiten von YouTube nicht längst ein Auslaufmodell?

In  Nordrhein-Westfalen hat die Landesanstalt für Medien (LfM) auf den ersten Blick gegen den Trend in der Nachfolge der Offenen Kanäle ein neues TV-Modell etabliert: einen Lernsender, der landesweit im digitalen Kabelnetz zu empfangen ist und von der TU Dortmund betrieben wird. Zwei Ziele, die mit diesem Sender verbunden werden, sind eine Stärkung der publizistischen Vielfalt und die Vermittlung von Medienkompetenz. Wie kann das funktionieren? Anders als die großen TV-Sender setzt nrwision voll auf Partizipation. Jeder Hobby-Fernsehmacher, der Interesse am Medium hat, kann das Programm mitgestalten. Dies gilt auch für Berufsschüler und Studierende aus sehr unterschiedlichen  Fachrichtungen, denen in „Lehr- und Lernredaktionen“, gefördert von der Lf M, gezielt Fernsehkompetenzen vermittelt werden. Hinzu kommen angehende Profis, die sich bereits in einer professionellen Medienausbildung befinden.

Diese drei Gruppen liefern jeweils Programm zu, das von der „Zentrale“ in Dortmund in einem wöchentlichen Programmschema gebündelt wird. Erfahrene Studierende der Dortmunder Journalistik, die in der Regel bereits ein Volontariat absolviert haben, nehmen als Programmredakteure die Beiträge der Zulieferer entgegen und geben jedem, der bei nrwision mitmacht, individuelle technische, dramaturgische oder journalistische Feedbacks. Somit entspricht nrwision weder dem Modell des reinen Bürgerjournalismus noch dem in großen Sendern überwiegend praktizierten traditionellen Journalismus. Die besondere Form der angeleiteten Partizipation macht dieses Modell auch für die Forschung interessant. Ist der Sender eine Alternative zur Partizipation über YouTube? Setzt er auf ähnliche Motivationsstrukturen wie das Social Web oder entwickelt der Lernsender ein eigenes Profil?

Ein laufendes Lehrforschungsprojekt  am Institut für Journalistik der TU Dortmund unter Leitung von Annika Sehl und Mitarbeit von Hannah Lobert hat die Zulieferer von nrwision unter die Lupe genommen. Es wurden alle befragt, die im Jahr 2011 bis einschließlich Oktober eine Sendung zugeliefert hatten. Dazu verteilten Studierende die Fragebögen vor Ort in den Redaktionen oder verschickten sie auf Wunsch per Post. Von 83 zuliefernden Redaktionen forderten etwas mehr als die Hälfte Fragebögen an. Bisher kamen mit 168 Fragebögen über 40 Prozent der angeforderten Exemplare ausgefüllt zurück. Da die Anonymität der Teilnehmer gewahrt werden sollte, sind keine Rückschlüsse auf den Rücklauf in einzelnen Redaktionen möglich. Weiterhin kann das Verhältnis der Befragten zu allen Zulieferern nur geschätzt werden, da die Ansprechpartner in den Redaktionen nicht in allen Fällen die genaue Anzahl ihrer Redaktionsmitglieder angeben konnten. Schwerpunkte der Befragung waren u. a. die Motivation der Zulieferer, ihre Selbsteinschätzung im Vergleich zum professionellen Journalismus  und das Zusammenspiel zwischen den Zulieferern und der Programmredaktion.

In diesem Artikel beschäftigen wir uns vorwiegend mit der Abgrenzung von nrwision zum Social Web und den Merkmalen, die die Zulieferer diesen beiden Angeboten jeweils zuordnen. Zunächst aber eine kurze Beschreibung der Befragten: Mit Blick auf das Alter fällt auf, dass die Zulieferer eine breite Altersspanne abdecken. Der jüngste  Befragte ist 14 Jahre, der älteste Befragte 79 Jahre alt. Die Hälfte der Teilnehmer ist 24 Jahre oder jünger, davon wiederum die meisten zwischen 20 und 24 Jahren. Im Vergleich zu einer Studie über die ehemaligen Offenen Kanäle in Nordrhein-Westfalen (vgl. Volpers/Werner 2007) zeigt sich hiermit eine jüngere Altersstruktur. Eine genauere Auswertung ergibt, dass dies vor allem durch die Gruppen der angehenden Medienprofis und der Studierenden in Lehr- und Lernredaktionen bedingt ist.

Bei der Gruppe der Hobby-Fernsehmacher sind Zulieferer aller Altersgruppen relativ gleichmäßig vertreten. Entsprechend ergibt sich für die derzeitige Beschäftigung  der Zulieferer: Jeder zweite ist noch Studierender. Die Hobby-Fernsehmacher befinden sich im Gegensatz zu den anderen beiden Gruppen in sehr unterschiedlichen Beschäftigungssituationen. Von Schülern, Auszubildenden und Studierenden über Arbeiter, Arbeitslose, Angestellte/Beamte oder Selbständige bis hin zu Rentnern ist eine große Bandbreite vertreten. Die meisten Zulieferer sind in einem Team organisiert, die wenigsten produzieren alleine. Männer und Frauen sind nahezu gleich häufig bei nrwision als Zulieferer vertreten. Auf den ersten Blick könnte man denken, dass sich diese Verteilung im Vergleich zur oben angesprochenen Studie über die Offenen Kanäle geändert hat. Dort waren vor allem Männer aktiv. Doch auf den zweiten Blick zeigt sich auch bei nrwision: In der Gruppe der Hobby-Fernsehmacher haben nach wie vor mehrheitlich die Männer die Zügel in der Hand. Im Gegensatz dazu dominieren die Frauen in der Gruppe der angehenden Medienprofis.

Der Einfluss der Medienprofis in Ausbildung und der Studierenden in Lehr- und Lernredaktionen auf das Ergebnis zeigt sich auch beim höchsten Bildungsabschluss. Von allen Zulieferern haben rund drei Viertel Abitur gemacht oder sogar einen Hochschulabschluss in der Tasche. Bei den Hobby-Fernsehmachern verteilt sich die formale Bildung allerdings breiter – von Volks-/Hauptschule bis ebenfalls zum Hochschulabschluss. Kommen wir jetzt zum Vergleich der Merkmale, die nrwision oder dem Social Web zugeschrieben werden. Das Social Web beinhaltet Formate wie Weblogs, YouTube oder Social Networks. Dabei wurden die Zulieferer gefragt, ob sie bestimmte Merkmale eher nrwision, eher dem Social Web oder beiden im gleichen Maße zuordnen: Die Ergebnisse zeigen, dass die Zulieferer sehr deutlich differenzieren und nrwision und das Social Web unterschiedlich charakterisieren. „Trifft eher auf nrwision zu“ sagen die Zulieferer vor allem in den Bereichen „journalistisch dazulernen“ (76% nrwision versus 9% Social Web), „Rückmeldung bekommen“ (50% versus 16%) und „Anerkennung bekommen“ (41% versus 15%).

Die ersten beiden Punkte liefern ein erstes Indiz dafür, dass die Intention des Lernsenders, Medienkompetenz zu vermitteln, von den Zulieferern deutlich registriert wird. Interessant  ist, dass auch der Punkt „Anerkennung bekommen“ nrwision stärker zugeschrieben wird als Angeboten im Social Web. Hier ist zu vermuten, dass durch die redaktionelle Gesamtstruktur die soziale Interaktion mit der Programmredaktion und anderen Zulieferern deutlicher wahrgenommen wird. Umgekehrt ist das Profil des Social Web ebenso deutlich zu erkennen. Sowohl das Vernetzen (70% Social Web versus 4% nrwision)  als auch das Erreichen eines breiten Publikums (38% versus 23%) werden eindeutig stärker dem Social Web als nrwision zugeordnet. Dass ein Fernsehsender trotz aller Online-Aktivitäten nicht mit den Vernetzungsoptionen des Social Web konkurrieren kann, war vorhersehbar und unterstreicht, dass die Zulieferer von nrwision dem Lernsender andere Qualitäten zuordnen als dem Social Web.

Bedeutet diese Differenzierung der Angebote insgesamt, dass das Medium Fernsehen doch eine Partizipations-Option der Zukunft sein kann?  Für eine Beantwortung der Frage ist es noch zu früh. Fest steht, selbst wenn nrwision bezogen auf die Reichweite nicht mit großen Sendern konkurriert, könnte der Lernsender als Modell eine interessante Perspektiv-Diskussion anstoßen. Er kann zur Klärung der Frage beitragen, welche Partizipations-Möglichkeiten das als eher unbeweglich abgestempelte Medium Fernsehen grundsätzlich eröffnen kann.

Literatur:

Volpers, Helmut/Werner, Petra (Hrsg.) (2007): Bürgerfernsehen in Nordrhein-Westfalen. Eine Organisations- und Programmanalyse. Berlin: Vistas.

Erstveröffentlichung: Journalistik Journal Nr. 1 / 2012

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