Staatsmacht, Kapital und Menschenrechte – über diese drei Themenblöcke berichten bulgarische Printmedien kaum.
Ivo Indzhov, Leiter des Projekts „Tabuthemen in bulgarischen Printmedien“, fasst für uns die Ergebnisse der Forscher vom Institut für moderne Politik, der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Bulgarien und der St.-Kliment-Ohridski-Universität in Sofia zusammen:
Bulgarien ist eines der Schlusslichter unter den EU-Ländern in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen (ROG). 2011 rangierte das Land auf Platz 80 (von insgesamt 179 erfassten Ländern), zusammen mit Serbien, Chile und Paraguay. „In Bulgarien wurden Journalisten, die über Korruption und organisierte Kriminalität berichteten, bedroht und gezielt angegriffen. Die Besorgnis über den schwindenden Pluralismus der Printmedien nahm zu“, heißt es im Bericht von ROG. Vor allem die seit 2009 an der Macht stehende Partei GERB, die paradoxerweise den Namen „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ trägt, übt negativen Einfluss auf die Pressefreiheit in Bulgarien aus.
Der Ministerpräsident Boyko Borissov unterhält enge Beziehungen zu Medieneigentümern und Chefredakteuren, weshalb das Groß der bulgarischen Medien ein unkritisches Bild von ihm vermitteln. Zudem wächst die Medienkonzentration im Bereich der Printmedien, wobei eine regierungstreue Gruppe von Zeitungen, zu der auch zwei kleinere Fernsehsender und einige Websites gehören, am erfolgreichsten auf dem Markt ist.
Die meisten bulgarischen Medien agieren als kommerzielle Unternehmen, für die das öffentliche Interesse belanglos ist. Ein von der Politik abhängiger Journalismus sowie häufige Verstöße gegen die Medienethik bestimmen die Tagesordnung. Die schlechte Berufsausbildung der Journalisten ist dafür gewiss mitverantwortlich. Sowohl das Publikum als auch Medienexperten haben häufig das Gefühl, dass auf gewisse Themen überproportional eingegangen wird und dass die Berichterstattung voreingenommen gefärbt ist.
Weniger auffällig ist das Fehlen bzw. die Marginalisierung von wichtigen Themen. Im Gegensatz zum Agenda Setting-Effekt ist der Agenda Cutting-Effekt kaum erforscht. Das Projekt „Tabuthemen in bulgarischen Printmedien“ möchte diese Forschungslücke schließen. Als „Tabu“ in den Medien gilt ein Thema von öffentlichem Interesse, über das die Bürger eigentlich informiert werden sollten, aber die Medien oberflächlich, zu selten oder gar nicht berichten. Das Projekt wurde inspiriert vom US-amerikanischen Project Censored und der Initiative Nachrichtenaufklärung.
Rund hundert bulgarische Experten, darunter Medienforscher, Politologen, Juristen, Journalisten, Beschäftigte von Nichtregierungsorganisationen, nominierten je fünf gesellschaftlich bedeutsame Themen, die ihrer Meinung nach 2011 in den Printmedien zu wenig oder gar nicht zur Sprache kamen. Für jedes vorgeschlagene Thema mussten zuverlässige Informationsquellen vorliegen, wie zum Beispiel die Veröffentlichung in einem Online-Medium oder einer Pressemitteilung. So wurden insgesamt 55 Themen vorgeschlagen, aus denen eine siebenköpfige Arbeitsgruppe 22 auswählte.
Ein zehnköpfiges Team aus Studierenden und Hochschullehrern der Universität Sofia überprüfte in acht bulgarischen Tageszeitungen (Telegraf, Monitor, Standart, Novinar, Trud, 24 Tschasa, Sega, Dnevnik) und zwei bulgarischen Wochenzeitungen (Kapital, 168 Tschasa) aus dem Jahr 2011, ob und wenn ja, wie detailliert über diese Themen berichtet worden war.
Im Anschluss wurden zwei Ranglisten erstellt: eine, die den Grad der Tabuisierung der Themen angibt, und eine, die zu messen versucht, wie sehr das öffentliche Interesse tangiert ist.
Die Jury, bestehend aus drei Journalisten, zwei Menschenrechtlern, einem Soziologen und einem Medienforscher, bewerteten den Grad der Verletzung des öffentlichen Interesses auf einer 5er-Skala (5 = das gesellschaftliche Interesse ist in hohem Maße verletzt; 3 = das gesellschaftliche Interesse ist verletzt; 1 = das gesellschaftliche Interesse ist geringfügig/kaum verletzt).
Dieser Beitrag stützt sich vor allem auf die zweite Rangliste. Es ist davon auszugehen, dass nicht alle gelisteten Themen von allen Mainstream-Medien vollständig tabuisiert wurden; aber auch das ‚Underreporting“ von wichtigen Themen raubt den Bürger ihr Recht auf Information.
Die Ergebnisse
16 der 22 Themen wurden als tabuisiert bewertet. Die tabuisierten Themen lassen sich in drei Gruppen einteilen: Staatsmacht, Kapital und Menschenrechte. Drei der Themen erwiesen sich in allen zehn Zeitungen als absolut tabuisiert: zu den faulen Äpfeln im Bankensystem, dem Wahlkampfvideo mit dem gegenwärtigen Bürgermeister von Plovdiv, Ivan Totev,und den ACTA-Vorbereitungen ist in den analysierten Zeitungen keine einzige Zeile zu finden.
Dass die bulgarischen Printmedien die faulen Äpfel im Bankensystem verschwiegen haben, hat das öffentliche Interesse in höchstem Maße verletzt, so die Jury. Dieses Thema nimmt mit 33 Punkten Platz 1 in der Rangliste ein. Es war an die Öffentlichkeit gelangt, als Bivol – die bulgarische Wikileaks-Partner-Website – über eine Depesche des US-amerikanischen Botschafters John Beyrle ans das State Department aus dem Jahr 2006 berichtet hatte. Beyrle hatte damals acht Banken „Geldwäsche durch bulgarische und ausländische Kriminelle und die damit verbundene Gewährung von Anleihen” vorgeworfen.
Die meisten Zeitungen veröffentlichten keinerlei Information dazu, während sie im Allgemeinen die in der Depesche festgestellte Stabilität des Bankensektors in Bulgarien lobten. Die Erfolge verdanke man vor allem der Präsenz etablierter ausländischer Banken. Die wenigen Blätter, die über die Bivol-Publikation berichteten, nannten nicht die Namen der acht involvierten bulgarischen Banken. Man vermutet, dass diese Banken im Besitz von Schattengruppierungen oder dubiosen Wirtschaftsunternehmen und Geschäftsmännern sind.
Folgende weitere Themen, deren Tabuisierung bzw. Marginalisierung gegen das gesellschaftliche Interesse verstieß, wurden identifiziert und erhielten von der Jury jeweils 31 Punkte:
– Die mutmaßlich dunkle Vergangenheit des Ministerpräsidenten Boyko Borissov. Diese blieb – mit Ausnahme seiner Feuerwehr- und Sporterfolge und seiner politischen Laufbahn – ein Tabuthema für die meisten bulgarischen Medien. Lediglich drei Zeitungen veröffentlichten ausführlich eine weitere diesbezügliche Depesche des US-amerikanischen Ex-Botschafters Beyrle an das State Department, die ebenfalls über WikiLeaks/Bivol bekannt geworden war. Im Mittelpunkt standen Borissovs erfolgreiche politische Laufbahn, aber auch Verdächtigungen, er habe in der Vergangenheit verdeckte Beziehungen zur organisierten Kriminalität und zu einflussreichen Geschäftsleuten unterhalten, Medien für seine Imageaufbesserung bezahlt und Journalisten, die negativ über ihn schrieben, bedroht.
Die anderen Zeitungen verschwiegen den skandalösesten Teil der Depesche, ließen aber Borissov mit seinem Dementi zu Wort kommen, – ebenso wie den damaligen US-amerikanischen Botschafter Warlick, der Borissov zur Schadensbegrenzung verteidigte.
– Woher stammt das Vermögen von Tsvetelina Borislavova, der reichsten Frau Bulgariens? Die Zeitungen informierten lediglich über den Kauf der bulgarisch-amerikanischen Kreditbank (BAKB) durch einen Fonds von Borislavova, fragten aber nicht nach der ursprünglichen Herkunft des Kapitals der Ex-Freundin des Ministerpräsidenten, deren Business erblühte, seitdem er 2001 Chefsekretär des Innenministeriums, danach Oberbürgermeister der Hauptstadt Sofia und 2009 Ministerpräsident geworden war. Zudem hatte nur eine Zeitung knapp darüber informiert, wie eine Stiftung von Borislavova ohne Wettbewerb zum Partner der Hauptstadtgemeinde in einem Projekt für „innovative Kulturereignisse” im Rahmen eines operativen EU-Programms gekürt worden war.
– Das skandalumwitterte Wahlkampfvideo des Oberbürgermeisters von Plovdiv, Ivan Totev. Auf YouTube wurde ein Video hochgeladen, das zeigt, wie im Herbst 2010 Totev, damals Regionalführer der regierenden Partei in der zweitgrößten bulgarischen Stadt, Funktionären seiner Partei demonstriert, wie sich die Wahlen in einem bestimmten Stadtteil manipulieren lassen. In keiner einzigen Zeitung ist auch nur eine Zeile darüber zu finden, obwohl der Manipulationsversuch während der Wahlkampagne 2011 ein „öffentliches Geheimnis“ war und am Vorabend der Stichwahl zum Oberbürgermeister in Plovdiv, die Ivan Totev gewann, einige Online-Medien darüber neuerlich berichteten.
– Die Kaderpolitik im Justizsystem. Themen wie die undurchsichtige Wahl von Aufsichtsbeamten, der vorzeitige Austausch des Vorsitzenden des Obersten Verwaltungsgerichts, die Befugniserweiterung von dessen Nachfolger, Richter abzuordnen, waren für die meisten Zeitungen kaum von Interesse.
– Das negative und stark stereotypisierte Medienbild der Roma. Abgesehen von Veröffentlichungen zu den Krawallen im ethnisch gemischten Dorf Katunitsa und den darauf folgenden Anti-Roma-Demonstrationen im ganzen Land hat das Forscherteam festgestellt, dass wichtige Alltagsprobleme der Roma fast völlig ignoriert werden – so etwa ihre Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt, Menschenhandel, von dem die Minderheit immer noch stark betroffen ist, oder polizeiliche Gewaltanwendung gegen Roma.
– Der Staat als Inserent in den Medien. In den letzten Jahren ist der Staat zu einem der größten Inserenten in den Printmedien geworden, auch weil für EU-Programme Werbemittel zur Verfügung standen. Das Risiko besteht darin, dass regierungstreue Medien bevorzugt werden bzw. mit der Vergabe der Werbegelder auch Einfluss auf die redaktionelle Linie der begünstigten Blätter genommen wird. Würden die Spielregeln korrekt eingehalten, könnte der Staat angesichts des drastischen Rückgangs des Werbevolumens allerdings mit diesen Werbeausgaben auch stabilisierend auf die Medienbranche einwirken. Das gesamte Thema wurde indes von fast allen Medien tabuisiert.
– Diskriminierung von Homosexuellen. In der Regel wird über Homosexuelle selten berichtet, hauptsächlich im Zusammenhang mit der Sofia Gay Pride Parade. Es mangelt an tiefgründigen Analysen, Hintergrundinformationen und journalistischen Recherchen, die zur Enttabuisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen beitragen könnten und die auch das Problem der Gewaltbereitschaft gegenüber Homosexuellen aufgreifen.
– Sicherheit der Kernenergie. Die Sicherheit des bestehenden sowie eines künftigen Kernkraftwerks in Bulgarien war im Kontext der Nuklearkatastrophe von Fukushima zwar als Thema präsent, wurde jedoch einseitig behandelt. Während die Kernkraft-Lobbyisten ständig zu Wort kamen, waren die Stimmen der Kernkraft-Gegner weit seltener in der Berichterstattung vorhanden.
Derzeit vertiefen die Wissenschaftler ihre Analysen und versucht herauszufinden, weshalb wichtige Themen nicht auf die Medienagenda gelangen – ob politischer oder wirtschaftlicher Druck ausgeübt wird oder doch eher die Ursachen in den Redaktionen selbst zu suchen sind, es beispielsweise an Professionalität im Umgang mit Nachrichtenwerten mangelt.
In Zukunft beabsichtigt die Forschungsgruppe auch tabuisierte Themen im Rundfunk, in Online-Medien und in sozialen Netzwerken zu untersuchen. Sie möchte damit zur Steigerung der Transparenz und Qualität in den bulgarischen Medien beitragen.
Ivo Indzhov ist Honorardozent am Lehrstuhl für Politikwissenschaft der St.-Kliment-Ohridski-Universität in Sofia. Er studierte Journalistik und Politikwissenschaft in Sofia und promovierte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) mit einem Thema zur Fernsehtransformation in Bulgarien. Indzhov ist Autor des Buches „Medien – zwischen der Freiheit, Politik und dem Business“ (auf bulgarisch) und Übersetzer sowie Koautor der bulgarischen Ausgabe von „Journalismus: Das Lehr- und Handbuch“ von Stephan Ruß-Mohl.
Schlagwörter:Agenda Cutting, Bulgarien, Friedrich-Naumann-Stiftung, Initiative Nachrichtenaufklärung, Institut für moderne Politik, Project Censored, St.-Kliment-Ohridski-Universität Sofia, Tabu, Tabuthemen in bulgarischen Printmedien