Amok macht Schlagzeilen

18. November 2008 • Qualität & Ethik • von

Erstveröffentlichung: St. Galler Tagblatt

Amok Das Schlagwort Amok garantiert höchste Aufmerksamkeit in den Medien, das hat letzte Woche die Schiesserei im Aargau wieder gezeigt. Doch man müsste unterscheiden – Beobachtungen zur Inflation eines Begriffs und zur problematischen Rolle der Medien.

Als vergangene Woche im Aargau ein 50jähriger in den Garten schoss, landete er als «Amokschütze» in den Schlagzeilen. «Lesen Sie auch», empfahl zum Beispiel «Blick online»: «Messer-Amok im High-Tech-Center», «Amokfahrt à la Hollywood»…

Ende September erschoss ein Amokläufer an einer finnischen Schule zehn Schüler, übergoss sie mit Benzin und zündete sie an. Wenige Stunden später blickten wir in den Pistolenlauf des Täters. In etlichen Redaktionen wurden seine Schiess-Videos von YouTube auf die Internetplattform gezogen. «Welt-online.de» übersetzte seine Allmachtsphantasien aus dem Finnischen, der «Tages-Anzeiger» zeigte auf einem dreidimensionalen Raumplan der Schule, wo und wann geschossen wurde. Die Rangliste der schlimmsten Schulmassaker (Illinois, fünf Tote; Tuusula, sechs Tote; davor Blacksburg, 32 Tote…) wurde ergänzt.

Amokläufe erhalten heute durch die Medien Aufmerksamkeit und Präsenz wie nie. Machen sich Medien damit mitschuldig?

Das sind die falschen Fragen, behauptet Heiko Christians, ein Medienkulturhistoriker, der an der Universität Potsdam über Amokläufe forscht. Medien machen, was sie immer getan haben, wenn sie über Krieg und Katastrophen berichten, sagt er: Sie richten die Aufmerksamkeit auf das Schreckliche, und sie vereinfachen. Genau so berichten sie auch über Amok. Die heutige Technik ermöglicht allerdings einen voyeuristischeren Zugang und lässt solche Informationen ständig und weltweit kursieren.

Die Medienkritik muss an zwei anderen Punkten ansetzen. Erstens: Medienschaffende übernehmen allzu leicht die in Politik und Bevölkerung vorherrschende Meinung; je nachdem übersteigern oder verschweigen sie. Zweitens: Sie vernachlässigen die Zusammenhänge.

Verschweigen oder übersteigern

Bis heute ist im Kanton Zug die Berichterstattung über den Amoklauf von 2001, bei dem vierzehn Politiker erschossen wurden, eine heikle Angelegenheit. Damals hatte sich die Presse am Ort wider die Medienlogik und für die vorherrschende Meinung entschieden. Wer grösser berichtete, stand im Verdacht, den Informationsauftrag über die emotionalen Bedürfnisse der Angehörigen zu stellen; wer Hintergründe des Verbrechens beschrieb, galt rasch als einer, der dieses rechtfertigte. Karl Weilbach, ein St. Galler Kriminologe, arbeitete den Fall in einer Doktorarbeit auf, die im Frühjahr erscheinen wird. Darin geht er allerdings nicht auf die Rolle der Medien ein, sondern analysiert, was den Täter alle Hemmschwellen überspringen liess.

Die Schiesserei letzte Woche im Aargau ist hingegen ein Beispiel für Übersteigerung. Hier stimmten die Reizworte – Sturmgewehr, Schule in der Nähe, Sondereinsatzkommando, als gewalttätig bekannt… Doch der Sachverhalt traf zum Glück nicht zu: Ein Amokläufer überwindet (per Definition) die Tötungshemmung; das macht ihn zum Massenmörder und Selbstmörder zugleich.

Journalisten bleiben zu sehr an der Oberfläche. Vier Beispiele. Erstens: «Die verbreitete Darstellung, es wird alles schlimmer, stimmt nicht», erklärt Christians. Amokläufe scheinen statistisch gehäuft, weil man wegen ihres Nachrichten- und Sensationswerts von fast allen erfährt.

Zweitens: «Rezepte» wie schärfere Waffengesetze können nicht nützen. Sonst müsste man aus den jeweiligen nationalen Vorschriften zum Waffenbesitz auf die Zahl der Amokläufe in einem Land schliessen können.

Drittens: Die historische Einordnung erschöpft sich in den Medien im einer fragwürdigen Art von «Massaker-Ranking». Wir erfahren nicht, dass Amoklauf im Ehrenkodex der Vormoderne für Angehörige der Oberschicht eine übliche Reaktion war, wenn sie gekränkt wurden, oder dass er oft eine militärische Strategie war. «Dort gab es quasi Amok auf Befehl, Überleben war gar nicht vorgesehen», sagt Christians.

Auf die Gegenwart übertragen, heisst dies: Einer erklärt der Gesellschaft den Krieg, weil er sich in seinem Ehrgefühl gekränkt und missverstanden fühlt.

Viertens: «Bei Amok hat man es mit multimedialen Architekturen zu tun», erklärt Christians. Etliche spätere Amokläufer zogen sich ins Private zurück und tauchten später wieder auf in einer virtuellen Öffentlichkeit. Manche beschäftigen sich mit Gewaltvideos und -spielen, nur vereinzelt waren Amokläufer vorher eindeutig psychisch krank.

Die explosive Mischung

Ausschlaggebend sei also die explosive Mischung aus all dem. Doch auch sie zündet nicht zwangsläufig. Obgleich Amokläufer ausserordentlich planvoll vorgehen, bleiben sie unkalkulierbar. Polizisten verhörten den finnischen Amokläufer am Tag vor der Tat, liessen ihn aber frei, weil sie nichts Eindeutiges feststellten. Psychologen und Psychiater begutachteten später zu Schulungszwecken das Psychogramm des (anonymisierten) Amokläufers von Zug und kamen zum Fazit, man müsse ihn «beobachten».

Christians: «Bei Amokläufen kann man nie sicher sein, wer es tun wird und wer nicht.»

Heiko Christians: Amok. Geschichte einer Ausbreitung. Aisthesis Verlag Bielefeld 2008, Fr. 35.90. Karl Weilbach: «Es sieht so aus, als würde ich der Wolf sein». Eine Fallanalyse zur Amoktat von Zug aus kriminologischer Sicht (Publikation für Frühjahr 2009 geplant).

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Amok und Berserker: Begriffe im Wandel

Der Begriff Amok ist wohl vom malaiischen Wort amuk, «wütend» oder «rasend» abgeleitet, der erweiterte Ausdruck mengamuk meint spontane, gewaltsame Angriffe gegen Unbeteiligte. Ursprünglich war Amok keine private Einzeltat, sondern das genaue Gegenteil. Es handelte sich im indonesischen Kulturkreis um eine kriegerische Aktion, bei der Krieger eine Schlacht dadurch zu wenden versuchten, dass sie den Feind blindwütig attackierten. Dieses Muster findet sich auch beim Berserker, einem Wort, das einen ähnlichen Bedeutungswandel wie Amok erlebt hat. Das in den altnordischen Sagas belegte Wort Berserker galt ursprünglich für Krieger, die in Bärenfelle gekleidet und im Kampfrausch schmerzunempfindlich waren. (red.)

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