Für Journalisten besteht die Welt aus einer ständigen Spirale der Eskalation, meint Kolumnist Kurt W. Zimmermann.
Beginnen wir mit einer These: Immer mehr Journalisten schreiben immer mehr erheiternden Blödsinn. Die These fiel mir ein, als ich kürzlich den Tages-Anzeiger las. Unter dem Titel „Amerikas neue Krankheit“ las ich dort: „Immer mehr Menschen müssen in Therapie, weil sie unter politischem Stress leiden.“ In den USA, so alarmierte das Blatt, verbreite sich die „kollektive Angst vor dem Ende der Welt“ rasend schnell unter der Bevölkerung. Natürlich ist die Ursache der Massenepidemie Donald Trump.
Immer mehr müssen in Therapie. Immer mehr. Unter all den Worthülsen im Journalismus ist die Worthülse des „immer mehr“ die beliebteste. Sie erfüllt die wichtigste Anforderung der Medien. Durch sie lässt sich ein neuer Trend beschreiben, ohne dass es für diesen eines präzisen Belegs bedarf.
Bevor wir dies etwas ausführen, ein paar Beispiele. Sie stammen alle von vorletzter Woche. Allein vorletzte Woche konnte man achthundert Artikel lesen, in denen ein neues Massenphänomen beschrieben wurde. Immer stand in den achthundert Beiträgen die Hülse „immer mehr“.
„Die Aare wird für immer mehr Gummiböötler zum Freizeitparadies.“ (Berner Zeitung)
„Immer mehr Paare wählen für die Trauung Orte außerhalb der Kirche.“ (Aargauer Zeitung)
„Immer mehr Frauen lassen sich ihre Geschlechtsteile verkleinern.“ (Tages-Anzeiger)
„Immer mehr Rentiere suchen Schutz vor der Hitze.“ (NZZ am Sonntag)
„Immer mehr Lastwagen werden von ausländischen Chauffeuren gefahren.“ (Der Bund)
„In die Schweiz werden immer mehr Bienen importiert.“ (Radio SRF)
Immer mehr, immer mehr. Immer mehr Böötler, immer mehr Bienen, immer mehr Schönheits-OPs, immer mehr Rentiere, immer mehr Paare. Warum dieser permanente Hang zur Eskalation?
Journalisten verstehen sich als eine Art Radioskopen der Gesellschaft. Sie möchten Veränderungen in dieser Gesellschaft möglichst frühzeitig erkennen. Je früher, desto besser. Veränderung ist in der Wahrnehmung der Medien fast immer als Vergrößerung definiert. Veränderung ist Wachstum. Am liebsten ist den Journalisten das Wachstum unerfreulicher Tendenzen. Immer mehr traurige Depressive wegen Trump, immer mehr traurige Rentiere wegen der Klimaerwärmung, immer mehr traurige Labia wegen des Schönheitswahns.
Im Vergleich zur Formel „immer mehr“ kommt die Formel „immer weniger“ in den Medien rund siebenmal weniger häufig vor. „Immer weniger“ ist nicht schlagzeilentauglich. „Immer weniger“ kann man in den Medien vielfach nur dann als Headline lesen, wenn damit politische Korrektheit sichergestellt wird: „Immer weniger Asylgesuche“ war zuletzt das beste Beispiel dafür.
Der größte Vorteil des Immer-mehr-Journalismus ist seine Schlichtheit. Es braucht keine große Recherche und keine Zahlenbasis, um den gefühlten Trend publizistisch festzumachen. Es genügt eine vermutete, geringe statistische Abweichung, und schon ist der Trend geboren.
Wenn zum Beispiel im letzten Jahr kein Schweizer an Tollwut starb, in diesem Jahr aber einer daran stirbt, dann kann man titeln: „Immer mehr Schweizer sterben an Tollwut.“ Das ist dann rechnerisch sozusagen erhärtet.
In den letzten Jahren schrieb nie ein Journalist über das Thema des Immer-mehr-Journalismus. Heute ist es so weit. Wir können also folgern: Immer mehr Journalisten schreiben darüber, dass immer mehr Journalisten den Ausdruck „immer mehr“ immer mehr verwenden.
Erstveröffentlichung: Die Weltwoche vom 9. August 2018
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