Zeit ist nicht gleich Aufmerksamkeit

9. Dezember 2019 • Digitales, Qualität & Ethik • von

Für Medienunternehmen ist Zeit, die Nutzer mit ihren Nachrichten verbringen, Geld. Daher beschäftigen sich Wissenschaftler regelmäßig damit, wann, wie oft und wie lange Nutzer Nachrichten konsumieren – die Ergebnisse können Medienunternehmen dabei helfen, das Verhalten ihrer Rezipienten zu analysieren und ihre Angebote entsprechend zu optimieren. Was aber bedeutet Zeit aus Perspektive der Nachrichtenleser? Damit haben sich Tim Groot Kormelink und Irene Costera Meijer in ihrer Studie „A User Perspective on Time Spent: Temporal Experiences of Everyday News Use“ beschäftigt. Das Ergebnis: Die Verbindung zwischen Zeit und Nachrichtenkonsum ist viel komplexer als die gängigen Fragestellungen vermuten lassen.

In den bisherigen Studien zum Thema Zeit und Nachrichtennutzung stellen Groot Kormelink und Costera Meijer (beide Vrije Universiteit Amsterdam) drei Tendenzen fest: Nachrichtenkonsum wird oft anhand der von Nutzern verwandten Zeit untersucht, aus der verwandten Zeit wird das (Des-)Interesse der Nutzer an den Nachrichten abgeleitet und Medienunternehmen erachten es als wünschenswert, dass Nutzer mehr Zeit mit ihren Nachrichten verbringen. Die Autoren halten dagegen, dass die Dauer der Beschäftigung mit einer Nachricht nicht die Intensität der Auseinandersetzung bestimmt.

Um mehr Aufschluss darüber zu bekommen, was die mit Nachrichten verbrachte Zeit für Nutzer bedeutet, haben sie daher mit drei Methoden das Zeiterleben aus Rezipientenperspektive untersucht. Die Daten stammen aus vorherigen qualitativen Studien des Autorenteams.  In der ersten Studie sahen die Teilnehmer sich nachrichtliche TV-Beiträge an und reflektierten danach in Gruppendiskussionen das Gesehene. In der zweiten Studie wurden sie aufgefordert, ihre Handlungen und Gedanken laut auszusprechen, während sie sich durch verschiedene Online-Nachrichten klickten. Für die dritte Studie wurden die Nutzer gefilmt, während sie Nachrichten konsumierten, und im Anschluss wurden die Filmaufnahmen diskutiert.

Bei der Messung der Zeit auch das jeweilige Medium bedenken

Die Ergebnisse zeigen, dass die Dauer, Frequenz oder Häufigkeit des Nachrichtenkonsums alleine nicht ausreicht, um die Interaktion der Nutzer mit den Nachrichten zu bestimmen. Wie viel Zeit Nutzer mit einer Nachricht verbringen, sagt nicht unbedingt etwas darüber aus, wie viel Aufmerksamkeit sie ihr schenken. Es gibt auch keine direkte Verbindung zwischen der Zeit und der Intensität der Auseinandersetzung mit einer Nachricht. So verbringen zum Beispiel Menschen, die viele Nachrichten lesen, eher weniger Zeit mit der einzelnen Nachricht, weil sie sowohl inhaltlich informiert als auch im Umgang mit den Medien und technischen Geräten geübt sind.

Neue Plattformen, Geräte und Genres können die Zeit, die auf Nachrichten verwendet wird, stark verändern. Bei der Messung der Zeit, die Nutzer mit Nachrichten verbringen, sollte daher auch das jeweilige Medium bedacht werden sowie die Geräte, mit denen die Nutzer auf die Nachrichten zugreifen, betonen Kormelink und Meijer. Besonders bei Online-Nachrichten sollte es außerdem weniger um die auf einer Website verbrachte Zeit gehen, in der eine oder mehrere Nachrichten auf dem Gerät geöffnet sind, sondern um die Zeit, in der die Nutzer die Nachrichten auch tatsächlich gelesen oder angeschaut haben.

Leser vs. Scanner und Scroller

Nach Ansicht der Autoren gibt es je nach Medium starke Unterschiede in der Zeit, die auf Nachrichten verwendet wird: Fernsehnachrichten konsumierten Zuschauer entweder zurückgelehnt auf dem Sofa oder nebenbei, das Lesen einer Zeitung sei oft ein Ritual, Online-Nachrichten lese man aber eher zwischendurch, zum Beispiel beim Pendeln in der Bahn. Sie müssen daher eher kurz und schnell zu lesen sein, um den Bedürfnissen der Nutzer zu entsprechen. Es gebe in Zusammenhang mit den unterschiedlichen Medien und Geräten auch verschiedene Typen von Nachrichtennutzern, stellen Kormelink und Meijer fest: solche, die in Ruhe lesen möchten und Wert auf Hintergründe und Analysen legen, und solche, die lieber scrollen und scannen.

Um beide Gruppen mit einem einzigen Text ansprechen zu können, empfiehlt das Autorenteam, längere Online-Texte zu Beginn stichpunktartig zusammenzufassen – so können Scanner die wichtigsten Punkte schnell durchblicken, Leser bekommen tiefergehende Informationen und im besten Fall wird es für alle Nutzer leichter, die Kernaussagen zu  erkennen. Einige Webseiten tun das bereits, und einige, wie zum Beispiel die Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, geben über den Artikeln die geschätzte Lesedauer an.

Eine Frage für weitere Recherchen wäre, so die Autoren, ob die unterschiedliche Zeitdauer, die User je nach Medium, Genre und Gerät auf ihre Nachrichten verwenden, beeinflusst, wie viel oder wenig sie daraus lernen – ob also zum Beispiel schnelle Lesegewohnheiten auf mobilen Geräten den Nutzern weniger Informationen liefern als das genüssliche Studieren einer gedruckten Zeitung.

Tim Groot Kormelink & Irene Costera Meijer (2019): “A User Perspective on Time Spent: Temporal Experience s of Everyday News Use”. Journalism Studies, doi.org/10.1080/1461670X.2019.1639538

 

Bildquelle: pixabay.com

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