Wer bestimmt die Tagesordnung?

21. März 2022 • Aktuelle Beiträge, Digitales, Redaktion & Ökonomie • von

Eine der am besten erforschten Medienwirkungen ist Agenda Setting. Medien machen Themen. Sie nehmen Einfluss darauf, was auf die politische Tagesordnung kommt und welchen Rang ein Thema im Vergleich zu anderen Themen einnimmt – einmal abgesehen von Kriegen und Katastrophen, die die Nachrichtenlage vollständig dominieren und alles andere zur Seite drängen.

Eine Forschungsgruppe der Universität Zürich um den Politikwissenschaftler Fabrizio Gilardi hat jetzt für die Schweiz untersucht, ob Soziale Medien wie Twitter inzwischen einen größeren Einfluss auf die politische Tagesordnung haben als konventionelle Medien wie Tageszeitungen. Zwei Jahre lang (2018 und 2019) beobachteten sie über 1000 Twitter-Accounts von Politikern und Parteien, 83 Tageszeitungen und alle Pressemitteilungen der sechs maßgeblichen Parteien. Über drei Millionen Zeitungsartikel, Tweets und Pressemitteilungen wurden mit einem automatischen Verfahren thematisch klassifiziert und zeitlich angeordnet.

Im Grundsatz stellte die Gruppe fest, dass Zeitungsbeiträge und Tweets sich gegenseitig etwa gleich stark beeinflussen. Nimmt etwa die Berichterstattung zu den Themen Migration oder Europapolitik in der Presse zu, erscheinen in der Folge auch mehr Tweets zu diesem Thema. Aber das Umgekehrte gilt auch. Ein hohes Aufkommen für ein Thema bei Twitter sorgt für mehr Berichterstattung in den Zeitungen. Einen vorherrschenden Einfluss des einen oder anderen Medientyps konnten die Forscher nicht feststellen. Mit einer Ausnahme: Über den gesamten Beobachtungszeitraum wurden nur Umweltthemen mit signifikantem Vorsprung zuerst bei Twitter platziert. Die Presse folgte dann diesem Trend.

Die Studie zeigt, dass Twitter für die politische Kommunikation inzwischen mindestens genauso bedeutsam ist wie konventionelle Pressearbeit und Medienberichterstattung. Von einer Twitter-Dominanz kann aber wohl in diesem Zusammenhang kaum die Rede sein. Die Daten sprechen eher für ein komplexes Netzwerk, in dem Themenagenden und Prioritäten auf vielen Kanälen ausgehandelt werden. Tageszeitungen sind dabei eine wichtige, aber nicht (mehr) die herausragende Instanz.

 

Fabrizio Gilardi, Theresa Gessler, Maël Kubli und Stefan Müller (2022): Social Media and Political Agenda Setting. In: Political Communication 39, pp. 39-60. https://doi.org/10.1080/10584609.2021.1910390

 

Erstveröffentlichung: Tagesspiegel vom 21.03.2022

Beitragsbild: Joshua Hoehne/unsplash.com

Print Friendly, PDF & Email

Schlagwörter:, , , ,

Kommentare sind geschlossen.

Send this to a friend