Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit

30. April 2008 • Ausbildung • von

Erstveröffentlichung: Schweizer Journalist 2 + 3 /08

Ins „dunkle Herz Chicagos“, und zwar in den dreissiger Jahren, entführt uns Rowenna Davis, um eine Erkenntnis endlich auch für den Journalismus fruchtbar zu machen, die für Sozialforscher und Betriebswirte zum Standard-Repertoire ihrer Ausbildung gehört. Im British Journalism Review kommt sie auf die berühmten Hawthorne-Experimente zurück, die zunächst unter Forschern für Erstaunen und Verwirrung gesorgt hatten.

Um die Produktivität der Mitarbeiter zu steigern, experimentierten damals in einer Fabrik Wissenschaftler mit Veränderungen der Arbeitsbedingungen, variierten bei einer Gruppe von Beschäftigten die Beleuchtung am Arbeitsplatz, die Entlohnung, die Arbeitspausen und -zeiten – und beobachteten parallel auch eine Kontrollgruppe von Mitarbeitern, deren Arbeitsalltag unverändert blieb. Das Ergebnis: Beide Gruppen arbeiteten mehr.

Es bedurfte einiger wissenschaftlicher Kreativität, um das Rätsel zu lösen und das unerwartete Versuchsergebnis in ein solides Forschungsresultat umzudeuten: Nicht die veränderten Arbeitsbedingungen, sondern die Tatsache, dass die Wissenschaftler den Beschäftigten Aufmerksamkeit geschenkt und sie zu ihren Forschungssubjekten gemacht hatten, spornten offenbar die Mitarbeiter an.

Zu recht meint Davis, Journalisten sollten diesen Hawthorne-Effekt kennen. Denn wo immer sie eines ihrer wichtigsten Recherche-Instrumente, das Interview, einsetzten, bestehe Gefahr, dass genau dieser Effekt eintritt. Sie weist auf vielfältige Möglichkeiten hin, wie die Interview-Situation zu verfälschten Antworten führen kann und belegt ihre plausible These mit lesenswerten Beispielen. Das spannendste: Ein amerikanisches Forschungsexperiment habe klar gezeigt, dass auch die ethnische Herkunft des Interviewers die Antwort der Interviewten beeinflusse. So wurden im Süden der USA 1000 Afro-Amerikaner befragt, ob sie in der Armee diskriminiert worden seien. Nur 11 Prozent der Befragten bejahten dies, wenn sie von weissen Interviewern befragt wurden. Dagegen antworteten 35 Prozent mit „Ja“, wenn der Interviewer farbig war. Dies solle im Auge behalten, wer heutzutage „kulturell sensitive Geschichten“ recherchiere, meint Davis – etwa im Umgang mit der muslimischen Welt.

Aber das ist eigentlich nur der Anfang vom dicken Ende: Seit sich die PR-Branche professionalisiert, und seit selbst Strassenräuber, Terroristen und die Mafia gelernt haben, wie man Massenmedien instrumentalisiert, müssen Journalisten damit rechnen, dass Ereignisse exklusiv für sie inszeniert werden – harmlose Glitzershows, aber auch Volksaufläufe, Bombenattentate und Hinrichtungen. Höchste Zeit, dass sich die Wissenschaft mit diesem „Hawthorne-Effekt“ der zweiten Generation gründlicher auseinandersetzt – und vielleicht auch Journalisten darüber nachdenken, wie sich der Falle der Medieninszenierungen entkommen lässt, statt nur wie die Pawlow’schen Hunde zu reagieren und reflexartig die Kamera „draufzuhalten“.

Rowenna Davis: Truth and nothing like the truth, in: British Journalism Review, Vol.. 18, Nr. 4/2007, 63-67

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