Erstveröffentlichung: Weltwoche 03/10
Die Katastrophe in Haiti hat uns gezeigt, wie die Medienwelt von morgen funktioniert.
Manchmal braucht es ein spezielles Ereignis, damit eine Theorie zur sichtbaren Praxis wird. Das spezielle Ereignis war das Erdbeben in Haiti. Morgens um zwei schaltete ich CNN ein. CNN hatte keine Videos aus Haiti, weil Telefon und Strom immer wieder zusammenbrachen. Die einzigen Bilder, die der Sender ausstrahlen konnte, stammten von Facebook. Es waren Fotos von eingestürzten Häusern, die mit dem Handy aufgenommen und ins Netz gestellt worden waren.
CNN hatte auch keine Ton-Kommentare. Die Beschreibung der aktuellen Lage in Haiti kam von Twitter. Twitter-User schilderten live, wie Spitäler und Schulen einstürzten.
Die Theorie war endgültig Praxis geworden. Die Theorie heisst grassroots journalism. Die Theorie beschreibt, wie wir Medienkonsumenten die Medienmacht übernehmen. In Haiti war dies erstmals bei einem Grossereignis der Fall. Nicht die TV-Profis informierten das Publikum. Das Publikum informierte die TV-Profis.
Haiti war nicht das erste, aber das eingängigste Beispiel von «Bürgerjournalismus», wie das auf Deutsch etwas behäbig heisst. Schon beim World Trade Center im 2001 lieferten Augenzeugen originäres Material. Beim Tsunami von 2004 stammten die Videos der Flutwelle allesamt von Amateuren. Zu den Protesten im Iran im 2009 trugen Twitterer wichtige Fakten bei, als die Korrespondenten behindert wurden.
Der sogenannte user-generated content ist technologisch getrieben. Jedes Handy kann inzwischen Ton, Fotos und Videos aufzeichnen und sie – unabhängig von der Medienindustrie – über Facebook, Twitter oder Youtube der Öffentlichkeit verfügbar machen. Der Besitzer eines 100 Gramm leichten Geräts ist heute ungefähr so leistungsstark wie noch vor fünfzehn Jahren eine dreiköpfige TV-Crew aus Kameramann, Tönler und Regisseur. Und die Handy-Videotechnik wird noch besser werden.
Interessant daran ist die soziologische Seite. Das Handy hat das Herrschaftswissen der klassischen Medien definitiv zerstört. Der Konsument kann nun örtlich und zeitlich unabhängig eigene Inhalte produzieren. Er kann sie an den Medien vorbei an die Öffentlichkeit tragen. Das ist neu. Zuvor hatten 400 Jahre lang die Medien die News kontrolliert und kanalisiert.
Wir erleben derzeit einen letzten Versuch der alten Medien, ihr ehemaliges Herrschaftswissen nochmals zu retten. Vor allem Pressejournalisten reden darum so häufig davon, dass ihre Leser in einer komplexen Welt nach «Orientierung» und «Einordnung» suchen würden. Und nur eine gute Zeitung könne diese «Orientierung» und «Einordnung» liefern.
Das alte Herrschaftswissen soll zurückkehren als intellektuelle Überlegenheit der Classe journalistique. Man disqualifiziert den unmündigen Leser als unfähig zu «Orientierung» und «Einordnung» und schreibt gleichzeitig dieses Talent sich selber zu. Es ist ein Fall von Dünkel und wird darum scheitern.
Die Medienwelt hat sich anders entwickelt, als es Verlage und TV-Stationen erwarteten. Die Medien-User, vor allem jene unter 45, finden sich glänzend zurecht in diesem orientierungs- und einordnungslosen Info-Dschungel der neuen Medien. Sie nutzen Blogs, Engines und soziale Netzwerke, welche ihre gesuchten Inhalte vorfiltern. Sie brauchen niemanden von den alten Medien, der sie altväterlich an der Hand nimmt und durch den dunklen Wald führt.
CNN hat mit Facebook einen Vertrag geschlossen. Der Stream und die Videos des Nachrichtenkanals sind nun in Facebook integriert. Dafür darf CNN den informativen Output der Facebook-Gemeinde nutzen.
Die alten Medien brauchen die jungen Medien, und nicht umgekehrt. Und nicht nur in Haiti.
Schlagwörter:Erdbeben, Facebook, grassroots journalism, Haiti, Twitter, user-generated content, Web 2.0