Neue Zürcher Zeitung, 7. November 2003
Eine Nachlese zum Fall Jayson Blair
Der Skandal um Jayson Blair, der als Mitarbeiter der «New York Times» gefälschte Artikel publiziert hatte, sorgte im vergangenen Mai weltweit für Schlagzeilen. Inzwischen befassten sich auch die amerikanische und die deutsche Fachpresse mit dem Fall.
Der Fall Jayson Blair entbehrte nicht der Tragikomik. Er stürzte die angesehenste Zeitung Amerikas in ihre bisher schwerste Krise – und damit ein Blatt, das für seine pingeligen redaktionellen Qualitätskontrollen bekannt ist. Bei kaum einer Tageszeitung werden Fakten gründlicher geprüft, und auch mit der akribischen Korrektur von Fehlern hat die «New York Times» weltweit Standards für die Branche gesetzt.
Selbstkritik
Die «corrections corner» auf Seite 2 sollte mehr als Kosmetik sein – ein ernsthafter Versuch, die Glaubwürdigkeit bei den Lesern gerade dadurch zu stärken, dass man eigene Fehlbarkeit tagtäglich eingesteht. Handelt es sich um einen verwickelten Fall, so wartet die Chefredaktion zusätzlich mit «editor's notes» auf, in denen erklärt wird, warum etwas schiefgelaufen ist. Vor wenigen Monaten hatte die «New York Times» ausserdem ihre ohnehin vorbildlichen Verhaltensrichtlinien für Redaktoren generalüberholt. Ausgerechnet in dieser Zeitung haben alle redaktionellen Sicherungen versagt; die leitenden Redaktoren verhalfen einem jungen Reporter, der systematisch seine Vorgesetzten belogen, sein Publikum betrogen und von seinen Berufskollegen abgeschrieben hat, zu einer steilen Karriere.
Wie konnte dieser journalistische GAU passieren? Die «New York Times» hat ihren Lesern im Mai über vier Zeitungsseiten hinweg detailliert Auskunft gegeben, was sich Blair in seiner kurzen Reporterlaufbahn alles hatte zuschulden kommen lassen und warum diverse Alarmsignale von der Chefredaktion nicht registriert wurden. Seither bemühen sich Medienexperten in der US-Fachpresse, genauer auszuleuchten, was in der tagesaktuellen Analyse eher im Schatten des grellen medialen Scheinwerferlichts geblieben ist.
Wagenburg-Mentalität
Weithin Konsens herrscht dabei über die Managementfehler der Chefredaktion, die zu sehr «top down» kommuniziert habe und ihren Redaktoren eher zu viel abverlangt habe. Auch der US-Zeitungsbranche ging es schlecht; der damalige Chefredaktor, Howard Raines, habe ein Klima der Angst entstehen lassen; in der immer noch riesigen, aber dezimierten Redaktion herrschte eine miserable Stimmung. Als Hauptfehler kritisiert Sharon Peters, Chefredaktorin eines Regionalblatts in Colorado, in der «American Journalism Review» (August/September 2003), dass ihre Kollegen in Spitzenpositionen «selbst viel mehr reden als zuhören». Rem Rieder, der Redaktionsleiter der Fachzeitschrift, fügt hinzu, bei der «New York Times» habe – trotz ihrer Korrekturspalte – oftmals eine Wagenburg- Mentalität geherrscht, wenn ihre Berichterstattung attackiert worden sei. Doch diese internen Konstellationen erklären nur unzureichend, warum Blair so lange unentdeckt bleiben konnte.
Der Journalistikprofessor Richard C. Wald beschäftigt sich in der «Columbia Journalism Review» (Juli/August 2003) mit dem Phänomen, dass viele Berichterstattungsopfer von Blair erst gar nicht den Versuch unternommen hätten, eine Richtigstellung seiner erfundenen Interviews zu erreichen. Für Wald hat das mit dem Verfall der Glaubwürdigkeit des Journalismus zu tun; die Publika erwarteten offenbar nicht mehr, dass Medien zutreffend berichten: «Wenn so viele Leute sich erst gar nicht bei einer solch prominenten Institution wie der ‹New York Times› beschweren, wenn sie tausend andere Dinge, wo uns Journalisten Fehler unterlaufen, nicht mehr richtigstellen, dann ist die Kluft zwischen Presse und Publikum so gross und tief geworden, dass es für uns alle problematisch wird. Wenn Information beliebig wird und nichts mehr wert ist, wenn es nicht mehr zählt, wer sie uns mitteilt, weil ohnehin ‹alle Medien gleich› sind, gerät die Zivilgesellschaft in Gefahr.» Der Journalist und Recherche- Experte Ariel Hart beklagt in derselben Zeitschrift den Realitätsverlust der Journalisten, die sich einfach nicht eingestehen wollten, wie fehleranfällig ihr Gewerbe sei: «Viele Reporter und Redaktoren glauben, dass sie keine Fehler gemacht haben, wenn kein Leser, Hörer oder Zuschauer anruft und sich beschwert.»
Ähnlich argumentiert auch die deutsche Medienfachzeitschrift «Message» (3. Quartal 2003). Sie arbeitet dabei heraus, wie sehr der Journalismus mit zweierlei Mass misst, wenn er sich mit sich selbst beschäftigt. Nach Bekanntwerden der Eskapaden Jayson Blairs sei die «New York Times» auch von deutschen Zeitungen mit Häme, Spott und Kritik überschüttet worden. Würden sich dagegen diese Blätter auch nur ansatzweise an den Qualitätsstandards der «Times» messen lassen, «könnten leicht Skandale ähnlichen Ausmasses ans Licht kommen». Die «Times» sei im Fall Blair «an ihren eigenen Qualitätsmassstäben gescheitert»; viele deutsche Zeitungen hätten dagegen «vergleichbare Massstäbe erst gar nicht». Vieles, was die «Times» selbstkritisch Blair vorgeworfen habe, seien diesseits des Atlantiks allenfalls Kavaliersdelikte – wenn etwa eine Ortsangabe zu Beginn eines Artikels suggeriert, der Berichterstatter sei auch tatsächlich dort gewesen, und der Beitrag in Wirklichkeit aus Agenturmaterial oder Recherchen im Internet zusammengestöpselt wurde. Die «New York Times» habe viele lässliche Berichterstattungssünden Blairs korrigiert – etwa dass «das Jahresgehalt eines Polizeichefs 160 000 und nicht 120 000 Dollar» beträgt oder dass «ein Soldat im Irak-Krieg nicht, wie Blair schrieb, das rechte Bein, sondern nur den Unterschenkel verloren» habe. Tenor: Bei uns käme kein Blatt auf die Idee, die Leser über derlei Fehlleistungen in Kenntnis zu setzen.
Schiefe Optik
Ted Glasser von der Stanford University, derzeit auch Präsident der Association of Education in Journalism and Mass Communication, sieht deshalb den eigentlichen Medienskandal des Sommers 2003 anderswo: Ein «ganzer Wald», so schreibt er in seinem Verbandsorgan «AEJMC- News» (Juli 2003), habe abgeholzt werden müssen, um auf Papier die Missetaten von Jayson Blair journalistisch durchzuhecheln. Dagegen habe ein so wichtiges Thema wie die geplanten Neuregelungen der Federal Communications Commission, die absehbar zu einer noch grösseren Machtkonzentration bei den US-Medienkonzernen führten, so gut wie gar keine Medienaufmerksamkeit erzielt.
Schlagwörter:Jayson Blair, New York Times