Je näher die Parlamentswahlen in der Ukraine am 26. Oktober rücken, desto mehr entdecken ukrainische Wähler viele unerwartete Kandidaten für sich – darunter auch eine Rekordzahl von Journalisten, die für das Parlament zur Wahl stehen.
Am 13. September explodierte das ukrainischen Facebook förmlich nach der Nachricht, dass zwei berühmte ukrainische Journalisten, Serhiy Leshchenko und Mustafa Nayeem, der Wahlliste von Präsident Poroschenko beitreten. „Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir Veränderungen wollen, versuchen sollten, trotz aller Kritik das System von innen zu verändern“, schrieb Leshchenko auf seiner Facebook-Seite.
Die öffentliche Resonanz in den sozialen Medien ließ nicht lange auf sich warten und war dabei durchaus widersprüchlich: Sie reichte von der Vorfreude über„frisches Blut“ in der Politik bis hin zu scharfer Kritik an der Entscheidung der Journalisten. Einige Kritiker argumentierten, dass die Journalisten unabhängige Wachhunde der Demokratie bleiben sollten, anstatt in die Politik zu gehen. Andere meinten, dass einzelne Aktivisten durch das Engagement in den bestehenden Parteien mit zwielichtiger Vergangenheit entweder selber in Korruption verwickelt oder ins politische Abseits gedrängt werden würden. Viele befürchteten, dass Journalisten nur von den Parteien als Teil einer Wahlstrategie ausgenutzt werden, um durch deren Beliebtheit Wählerstimmen zu erhaschen.
Tatsächlich hat der aktuelle Wahlkampf in der Ukraine eine beispiellose Konzentration auf populäre Persönlichkeiten hervorgebracht, die während der Ukraine-Krise prominent wurden. Alle großen politischen Parteien haben intensiv um die neuen ukrainischen Helden geworben. Zu den beliebten Politik-Newcomern zählen Kommandeure und Bürger aus den Reihen der verschiedenen Pro-Ukraine-Aktivisten – und eben auch Journalisten. Neben Leshchenko und Nayeem erscheinen mindestens zehn andere Journalisten in Wahllisten der politischen Parteien. Die große Zahl renommierter Persönlichkeiten erklärt sich durch die öffentliche Nachfrage nach „neuen Gesichtern“ in der Politik. Zudem wird die Forderung nach Reformen von genau den Menschen laut, die die Protestbewegung in der Ukraine angestoßen haben.
Die zwei Hauptgründe für Journalisten für das Parlament zu kandidieren, sind der Ehrgeiz, demokratische Reformen einzuleiten und den Prozess des Wandels bei den politischen Eliten voranzutreiben. Leshchenko, der seit 14 Jahren für Ukrayinska Pravda, eine der beliebtesten Nachrichten-Websites in der Ukraine, tätig ist, sagte, dass sich die meisten seiner Artikel mit Korruption und unehrlicherPolitik befassen. „Ich weiß, wie (korrupte) Systeme arbeiten und ich weiß, wie wir sie los werden können”, versicherte er.
Während skeptische Stimmen sich Sorgen machen, ob Journalisten wirksam Gesetzgeber und Reformer sein können, haben die Journalisten bereits angekündigt, dass sie sich mit anderen Aktivisten im neuen Parlament zusammentun und ein fraktionsübergreifendes Bündnis bilden wollen, um ihre politischen Ziele besser umsetzen zu können. So wollen sie das Geschehen im Parlamentaktiv mitgestalten und haben bereits den Kern ihrer Gesetzesentwürfe festgelegt. Darunter ist ein neues Wahlgesetz, das offene Parteilisten und transparente Finanzierung der politischen Parteien vorsieht, sowie ein Paket von Anti-Korruptions-Gesetzen, ein Gesetz über die Lobbyarbeit und andere Initiativen, die der Demokratisierung und einer erhöhten Transparenz der Regierungsarbeit dienen.
Die Mediengesetzgebung wird ein weiterer Schwerpunkt der Journalisten und Aktivisten im Parlament sein. „Wir brauchen eine Transparenz der Besitzstrukturen im Medienbereich”, sagte Natalya Sokolenko, eine Journalistin von Hromadske Radio, die für die Hromadianska Pozytsiya Partei (Civil Position Partei) kandidiert. Dies deutet darauf hin, dass ein neues Gesetz dieses Problemregeln solle. Sokolenko, die in den parlamentarischen Ausschuss für die Rede- und Informationsfreiheit aufgenommen werden möchte, erwähnte auch, dass die Einführung eines öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems oberste Priorität ihrer Tätigkeit im Parlament sein werde. „Wir brauchen solche starken öffentlich-rechtlichen Sender wie in Deutschland“, sagte sie in einem ihrer Interviews.
Ob es den ukrainischen Journalisten gelingt, Änderungen in der Politik und Verwaltung zu bewirken, bleibt abzuwarten. Ihre Popularität bei den Wählern zeigt den großen Vertrauensvorschuss, den die Ukrainer ihnen in dieser turbulenten Zeit gewähren.
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