Kollektiver Realitätsverlust

26. August 2011 • Qualität & Ethik • von

Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen dem Ehec-Virus, dem dritten Börsencrash innerhalb weniger Jahre, den immer weiter aufgeblähten Rettungsschirmen für Griechenland, Italien und andere Staaten, die eigentlich pleite sind, der Kehrtwende in der Nuklearpolitik und vermutlich auch dem Amoklauf eines Irren, der Norwegen terrorisiert hat?

Auf den ersten Blick recht wenig, außer dass es sich um Ereignisse handelt, die in den letzten Wochen und Monaten unser aller Aufmerksamkeit absorbiert haben. Auf den zweiten Blick eine ganze Menge. Denn man kann mit guten Gründen die kühne These vertreten, dass diese Ereignisse gar nicht oder ganz anders stattgefunden hätten, würden Medien und Journalismus ihre Rolle so spielen, wie sie sie im vielbeschworenen öffentlichen Interesse spielen sollten.

Dieses „öffentliche Interesse“ wird freilich im Alltagsgeschäft sträflich vernachlässigt. Würden Journalisten recherchieren, bevor sie Alarmmeldungen hinaus posaunen, hätte es den Ehec-Zirkus so nicht gegeben. Hätten die Watchdogs wirklich aufgepasst, dann hätte es weder der Rettungsschirme noch des letzten Börsencrashs bedurft. Es wäre einfach nie so weit gekommen, dass ringsum in Europa die politischen Eliten glauben, Gesetze machen zu können, an die sich gefälligst die anderen halten sollen, nur sie selbst nicht. Vielleicht hätte es dann den Euro nie gegeben, aber jedenfalls hätten Journalisten uns rechtzeitig davor gewarnt, dass der Pleitegeier über mehreren Staaten kreist.

Würden die Medien nicht immer wieder, mitunter jahrelang, weggucken, wäre auch die Energiewende in der Schweiz und in Deutschland weniger abrupt und mit weniger absurden Resultaten eingeleitet worden – dafür aber schon viel früher. Denn dann wäre nicht Fukushima zu ihrem Auslöser geworden, sondern die seit eh und je ungeklärte Frage, wie sich Atommüll entsorgen und endlagern lässt. Betrieben umgekehrt die Medien in Frankreich und Tschechien weniger Hofberichterstattung, könnten dort kaum Atommeiler auch nach Fukushima fleißig weiter Strom produzieren, den sie seither vermehrt in die Netze der Nachbarländer einspeisen. Und auch der Terror-Anschlag von Norwegen ist schwer vorstellbar, hätten nicht andere Attentäter bereits zuvor nach weltweiter Medienaufmerksamkeit gegiert und diese auch – ziemlich berechenbar – bekommen.

Ist es übertrieben zu vermuten, dass die Medien vielfach, statt uns zu informieren, zum individuellen und kollektiven Realitätsverlust beisteuern? Wir alle sind von der medial konstruierten Realität überfordert. Bei einem wachsenden Teil des Volks dürfen wir getrost annehmen, dass es sich einfache Lösungen erträumt – und wahrscheinlich klammheimlich auch den starken Mann. Eine hochexplosive, die Demokratie gefährdende Gemengelage ist das. Der Weltuntergang scheint nahe – wieder einmal und eigentlich täglich neu.

Da ist einmal das Stakkato, mit dem Medien und Journalismus uns den Atem rauben. Aber das Fernsehen lenkt mit seinen Soaps auch von der Realität ab und ermöglicht es uns, in virtuelle Welten zu entfliehen. Es „infantilisiert“ uns, so hat das schon vor Jahren der Semiotiker Umberto Eco festgehalten. Ähnliches ließe sich wohl auch von Gratiszeitungen oder von Youtube sagen. Auch wenn Medienwirkungsforscher zu recht vor allzu einfachen Erklärungs-Modellen warnen: Verblödungs- und Verwahrlosungs-Effekte lassen sich kaum leugnen, wenn das Fernsehen mit seinen Gewaltorgien und Selbstentblößungs-Talkrunden eben nicht nur als Baby-, sondern auch als Kleinkinder-, Heranwachsenden-, Arbeitslosen- und Alten-Sitter im Dauereinsatz ist.

Gewiss, wir sollten nicht in den Fehler der alten Griechen verfallen, die Überbringer schlechter Nachrichten zu bestrafen. Angesichts der desolaten Zustände und sich häufender Hiobsbotschaften ist es aber an der Zeit, öffentlich zu thematisieren, welche Kollateralschäden die Medien tagtäglich verursachen – eben gerade weil sie nicht nur neutrale Nachrichten-Transportarbeit verrichten, sondern oftmals News sensationalisieren, und weil uns die medialen Windmaschinen immer wieder in Angst und Schrecken versetzen.

Hieb- und stichfest nachweisen lässt sich auch der folgende Zusammenhang nicht –  aber es spricht vieles dafür, dass der politische Populismus, der in den westlichen Demokratien den Marsch durch die Institutionen angetreten hat und entweder bereits regiert oder mehrheitsfähig zu werden droht, ohne die populistische Begleitmusik vieler Medien weit weniger Erfolgsaussichten hätte. Der Flurschaden ist jedenfalls groß, den Tycoons wie Berlusconi und Murdoch – aber auch viele Medienunternehmer, die das Rampenlicht meiden wie der Teufel das Weihwasser – in unseren Gesellschaften angerichtet haben. Er dürfte weitaus größer sein als das, was die Medien selbst haben sichtbar werden lassen, wenn sie ab und an auch Medienmogule skandalisieren.

Und: Der Realitätsverlust beginnt bereits zur Schulzeit – wenn Lehrer es versäumen, über solche Zusammenhänge aufzuklären, weil weder Wirtschafts- noch Medienkunde in den Stundenplänen hinreichend verankert ist.

Erstveröffentlichung: Schweizer Werbewoche vom 26.8.2011

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