Ein Forschungsteam des EJO-Netzwerks hat analysiert, wie Medien in Deutschland, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal, Tschechien und Ungarn über die Europawahl 2019 berichteten und dabei festgestellt, dass das Konzept der Europäisierung normativ differenziert werden muss.
Fehlendes Interesse an der EU galt lange Zeit als größte Hürde für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit. Heute drängt sich die Frage auf, ob jede Form der Aufmerksamkeit auf eine tendenziell konvergente Entwicklung hindeutet – oder ob sie nicht auch das Gegenteil bedeuten kann? Die EU und ihre Vertreter stehen weit oben auf der Liste der wichtigsten Feindbilder populistischer Akteure – Politiker wie Boris Johnson, Viktor Orbán oder Matteo Salvini beschäftigen sich geradezu obsessiv mit der EU und verhelfen damit europäischen Themen zu medialer Aufmerksamkeit – schaffen sie damit aber auch eine europäische Öffentlichkeit?
Die Wahl zum EU-Parlament 2019 stand im Zeichen des Brexit und damit der größten Bedrohung für die Einheit der EU seit ihrem Bestehen. Sie war eine Wahl der Extreme: Nie war die Wahlbeteiligung höher, nie ging ein Parlament so fragmentiert aus einer Abstimmung hervor. Dieser historische Urnengang bot uns die Gelegenheit, eine Momentaufnahme vom Zustand der europäischen Öffentlichkeit anzufertigen und die verschiedenen Formen medialer Aufmerksamkeit zu unterscheiden: Konkret haben wir uns gefragt, wie hoch der Anteil der Berichterstattung in verschiedenen EU-Ländern ist, der die Europäische Union (und EU-Institutionen, EU-Politiker etc.) thematisiert – man spricht hier von vertikaler Europäisierung; und wie oft andere EU-Länder (und ihre Repräsentanten etc.) in der Berichterstattung thematisiert werden – die sogenannte horizontale Europäisierung.
Um diese Fragen zu beantworten, haben wir zwei Ansätze miteinander kombiniert: Im ersten Schritt wurden mittels computergestützter Inhaltsanalyse 57.943 Artikel zur EU-Wahl algorithmisch auf ihre thematische Zusammensetzung untersucht. Die Artikel stammten aus Leitmedien der untersuchten Länder: Deutschland, Großbritannien, Italien, Polen, Portugal, Tschechien und Ungarn. Die so generierten Themenlisten wurden von einem international besetzten Forschungsteam des EJO-Netzwerks analysiert. Bei der Interpretation der computergestützten Analyse konnten so die Spezifika der Länder berücksichtigt werden, also aktuelle politische Diskurse und Narrative, die politische und kulturelle Situation etc. Ziel war es dabei, die weithin vorurteilsfreien Ergebnisse des Algorithmus mit den Perspektiven der Länderexpertinnen und -experten zu kombinieren.
Horizontale vs. vertikale Europäisierung
Unsere Ergebnisse bestätigen, dass es sich bei horizontaler und vertikaler Europäisierung um zwei getrennt zu betrachtende Phänomene handelt, die offenbar verschiedene Funktionen innerhalb der untersuchten Öffentlichkeiten übernehmen (siehe Tabelle). Der Vergleich mit demoskopischen Daten zur allgemeinen Zustimmung der Bevölkerungen zur EU-Mitgliedschaft des Heimatlandes (Schulmeister et al., 2019) gab Hinweise darauf, wie die disparaten Ergebnisse zu erklären sein könnten.
Auffällig ist hier zunächst, dass die Länder mit den höchsten Zustimmungsraten zur EU – Portugal (69 Prozent) und Deutschland (76 Prozent) – auch die Länder sind, die den höchsten Anteil horizontal ausgerichteter Berichterstattung aufweisen. Im Interesse am europäischen Nachbarn scheint sich also eine affirmative EU-Haltung zu spiegeln. Portugal und Deutschland können als Repräsentanten von EU-Öffentlichkeiten gelten, die man am ehesten als konvergent bezeichnen kann.
Im Gegenteil dazu stehen die Länder mit den niedrigsten Zustimmungsraten zur EU-Mitgliedschaft, Tschechien (33 Prozent) und Italien (36 Prozent). Diese Länder sind gleichzeitig diejenigen, die den niedrigsten Grad vertikaler Bezüge aufweisen. Die EU selbst, ihre Institutionen und Repräsentanten, spielten in der Wahlberichterstattung dieser Länder nur eine marginale Rolle – insgesamt standen hier vor allem nationale Themen im Vordergrund. Allgemein stehen Tschechien und Italien damit für eine Gruppe wenig internationalisierter Öffentlichkeiten, die im traditionellen Sinne als nationalstaatlich zu bezeichnen ist.
Die dritte Gruppe zeichnet sich durch eine mittlere Zustimmungsrate aus (UK: 43, Ungarn: 61, Polen: 68, EU-Schnitt: 61). Insbesondere ist bei diesen Ländern auffällig, dass sie die höchste Differenz zwischen vertikalem und horizontalem Europäisierungswert aufweisen. Die EU wird hier überdurchschnittlich oft als monolithische Einheit adressiert, insbesondere im Kontext der Konflikte des jeweiligen Mitgliedsstaates mit der Europäischen Union – andere Mitgliedsstaaten werden vergleichsweise wenig thematisiert. Am ausgeprägtesten ist dieses Merkmal in Ungarn und Polen, wo die Presse oft die Sicht der EU-kritischen Regierung spiegelt. Eine hohe Differenz der Dimensionen deutet in diesem Sinne auf eine konfrontative Auseinandersetzung mit der EU hin.
Konzept der Europäisierung muss normativ differenziert werden
Die entwickelte Klassifikation konfrontativer und konvergenter und nationalstaatlich orientierter Länder steht nicht in direktem Zusammenhang mit den Mediensystemen der Länder. Auffällig ist jedoch, dass die Länder im Sample mit der geringsten Pressefreiheit (Ungarn und Polen) der konfrontativen Gruppe zugewiesen werden können, während die Länder mit der höchsten Pressefreiheit (Deutschland und Portugal) Repräsentanten des konvergenten Typus sind. 2019 stand Ungarn in der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen auf Platz 87, Polen auf Platz 59, Portugal auf Platz 13 und Deutschland auf Platz 12.
Das Konzept der Europäisierung muss damit auch normativ differenziert werden – konfrontative Berichterstattung lässt sich eher als populistische Europäisierung werten, die zwar Aufmerksamkeit für die EU schafft, gleichzeitig jedoch anti-europäische Stimmungen beschwört und so zu einer allgemeinen Polarisierung beiträgt. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen, insbesondere des Brexit-Referendums, lässt sich hier beinahe von einer toxischen Europäisierung sprechen – die im Gegensatz steht zu einer pro-europäischen Berichterstattung, in der die Perspektive verschiedener Mitgliedsländer gespiegelt wird und so zu einer gemeinsamen europäischen Identität beiträgt.
Von Nordheim, Gerret, Tina Bettels-Schwabbauer, Philip Di Salvo, Paula Kennedy, Kornélia R. Kiss, Michal Kús, Ana Pinto Martinho, Sandra Stefanikova, und Décio Telo. 2021. „The State of Europeanisation: Between Clash and Convergence. A Comparison of the Media Coverage of the 2019 European Elections in Seven Countries“. Mediterranean Journal of Communication 12(1):95–113. doi: 10.14198/MEDCOM000021.
Literatur:
Schulmeister, P.; Büttner, Chiesa, A.; Defourny, E.; Hallaouy, S.; Maggio, L.; Tsoulou-Malakoudi, D.; Friedli, M. E. & Van Gasse, B. (2019). Closer to the citizens, closer to the ballot. (A Public Opinion Monitoring Study 91.1; Eurobarometer Survey).
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Schlagwörter:Brexit, Deutschland, Europäische Union, horizontale Europäisierung, Italien, omputergestützte Inhaltsanalyse, Polen, Portugal, Tschechien und Großbritannien, Ungarn, vertikale Europäisierung, Wahl zum EU-Parlament 2019