Warum Flüchtlinge Smartphones haben

17. März 2017 • Qualität & Ethik • von

Wie eine Studie zeigt, nutzte der Großteil der Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak ein Smartphone auf der Flucht. Mobiltelefone mit Internetzugang sind aber kein Luxusgut, sondern stellen ein wichtiges, teils überlebensnotwendiges Werkzeug dar.

Für die Studie „Flucht 2.0. Mediennutzung durch Flüchtlinge vor, während und nach der Flucht“ des Instituts für Publizistik und Kommunikationswissenschaften der Freien Universität Berlin wurden 404 Interviews mit Flüchtlingen geführt. Befragt wurden Personen ab 14 Jahren im April und Mai 2016. Mehr als die Hälfte der Befragten war jünger als 30 Jahre, über 80 Prozent waren männlich. Die Befragten, die meist aus Syrien, Irak, Afghanistan, Pakistan und Iran kamen, reisten überwiegend zwischen Oktober 2015 und April 2016 nach Deutschland – in der Regel über die Balkanroute.

Zunächst wurde der Zugang der Flüchtlinge zu internetfähigen Geräten erfasst. Hierzu zählt nicht nur der Besitz eines Geräts, sondern auch die Möglichkeit, das von Familienmitgliedern zu nutzen. Anhand der Interviews  liefert die Studie Erkenntnisse, wie sich Flüchtlinge in ihren Herkunftsländern, auf ihrem Fluchtweg und in Deutschland informieren und welchen Quellen sie vertrauen.  Zudem macht sie deutlich, wie Flüchtlinge mobile Medien nutzen: zur Verbreitung von Informationen sowie zur Kommunikation mit anderen über die Flucht. Des Weiteren wird gezeigt,  wie die Mediennutzung mit Erwartungen, Bewertungen und Entscheidungen der Geflüchteten in Bezug zum Zielland Deutschland zusammenhängt. Damit soll das Verhalten vor und während der Flucht verständlicher (und ggf. prognostizierbar) gemacht werden.

Wichtigste Funktion des Internets: Kommunikation mit Bekannten und Verwandten

Die Studie zeigt,  dass in Deutschland angekommen über 80 Prozent der befragten Syrer und Iraker täglich das Internet nutzte. Unter den zentralasiatischen Flüchtlingen war es dagegen weniger als die Hälfte. Auch vor und während der Flucht war die Internetnutzung der Iraker und Syrer im Vergleich zu den Zentralasiaten deutlich höher, wobei in dieser Phase die Nutzung für alle Herkunftsgruppen generell geringer war als in Deutschland.

Die wichtigste Funktion des Internets ist für die Geflüchteten nicht die Suche nach Informationen, sondern die Kommunikation mit Bekannten und Verwandten. Informationsquellen, denen die Flüchtlinge in Krisensituationen das größte Vertrauen schenken, sind nicht journalistische Medienangebote, sondern die interpersonelle Kommunikation. Bei der Frage nach den Funktionen des Internets, die besonders geschätzt werden, stand die Kommunikation mit anderen (Syrien -94,5 Prozent, Irak – 89,3 Prozent, Zentralasien -84,6 Prozent), die Suche nach Informationen (Syrien – 51,0 Prozent, Irak – 54,7 Prozent, Zentralasien – 50,0 Prozent), Unterhaltungsangebote (Syrien – 25,5 Prozent, Irak – 17,3 Prozent, Zentralasien – 30,8 Prozent), oder auch praktische Zwecke, wie beispielsweise Geldüberweisungen, zur Auswahl.

Um herauszufinden, welche Internetplattformen für sie besonders relevant waren, fragten die Forscher zudem, welche Apps und soziale Medien auf der Flucht genutzt wurden, um an praktische Informationen zu gelangen. In allen Phasen und Fluchtregionen war die Kommunikation mit anderen die häufigste Nutzungsform des Internets, im Zielland Deutschland noch stärker als im Aufbruchsland oder unterwegs. Auch die Nutzung der großen Social‐Media‐Plattformen war unter den Flüchtlingen weit verbreitet: Es ist anzunehmen, dass der Großteil des interpersonalen Austauschs über die hier genannten Dienste abgewickelt wurde. In dieser Kategorie zeigen sich auch stärkere Unterschiede zwischen den Ländern: In Zentralasien, insbesondere dem Iran, war der Messenger Telegram am populärsten, da dieser noch relativ wenig von staatlicher Zensur betroffen war, während in anderen Ländern WhatsApp und Facebook am häufigsten genutzt wurden. Auch das in Deutschland wesentlich weniger genutzte Viber wurde relativ häufig genutzt. Andere Plattformen wie Twitter, Instagram oder YouTube spielten praktisch keine Rolle.

Planung der Flucht mit Hilfe digitaler Kommunikationsmittel

Ein weiterer Unterschied zwischen den Nationalitäten: Der Großteil der syrischen und irakischen Flüchtlinge hatte während der Flucht Zugang zu einem Smartphone (etwa 80 Prozent). Bei den zentralasiatischen Flüchtlingen war es nur etwa ein Drittel. Um während der Flucht an praktische Information zu gelangen, griffen syrische Flüchtlinge vor allem auf WhatsApp zurück (81,9 Prozent), während irakische Flüchtlinge WhatsApp, Viber und Facebook  ähnlich häufig nutzten (um die 60 Prozent). Zentralasiatische Flüchtlinge nutzten am häufigsten WhatsApp (56,3 Prozent), gefolgt von Telegram (37,5 Prozent).

Auch die Flucht wurde mit Hilfe digitaler Kommunikationsmittel geplant. Mehr als 40 Prozent der Flüchtlinge, die sich im Internet bewegen, nutzten es auch zur Planung der Flucht – etwa mit Google Maps oder für die Suche nach Informationen über Deutschland oder nach Erfahrungsberichten anderer Flüchtlinge. Während der Großteil der Syrer (78,2 Prozent) und Iraker (86,5 Prozent) auf der Flucht Zugang zu einem Smartphone hatte, war es bei den Befragten aus Zentralasien nur etwa ein Drittel; in dieser Gruppe waren einfache Handys (44,6 Prozent) deutlich verbreiteter. Grundsätzlich ist das beliebteste Medium der Befragten aller drei Herkunftsländer das Fernsehen. Sowohl in Deutschland als auch während der Flucht änderte sich das aber: Da traditionelle Medien wie Fernsehen und Radio schlechter zugänglich waren und sind, ersetzten mobile digitale Medien diese weitgehend.

Auffällig ist zunächst, dass sich der Großteil der Iraker noch im Heimatland für die Flucht nach Deutschland entschieden hat, während vor allem beim Großteil der Befragten aus Zentralasien die Entscheidung erst nach dem Verlassen des Heimatlandes getroffen wurde. Bei den Syrern halten sich diejenigen, die sich vor und nach der Flucht aus dem Heimatland (bzw. eines zwischenzeitlichen Aufenthaltslands) entschieden haben, in etwa die Waage.

Deutschlandbild der Flüchtlinge

Eine Fluchtentscheidung wird stets vor dem Hintergrund bestimmter Vorstellungen, Erwartungen und Hoffnungen getroffen. Aus diesem Grund enthielt der Fragebogen dieser Studie verschiedene Dimensionen, die sich auf das Deutschlandbild der Flüchtlinge und die damit einhergehenden Annahmen über ihr Leben in Deutschland bezogen. Die Ergebnisse zeigen, dass die Befragten sich ein Bild von Deutschland gemacht hatten, das teilweise auf Wahrheiten, aber oftmals auch auf Gerüchten oder bestenfalls Halbwahrheiten beruhte. Insgesamt haben die Befragten den Informationen/Gerüchten meist großen Glauben geschenkt.

Die Befragten aus Zentralasien scheinen gegenüber den Versprechen jedoch weit skeptischer gewesen zu sein als die Syrer und Iraker. Dem Gerücht, dass jeder Geflüchtete ein eigenes Haus bekommt, glaubte aus dieser Gruppe beispielsweise nur etwa jeder Dritte. Von Rechtsradikalen, die in Deutschland Flüchtlingsheime anzünden, haben vergleichsweise wenig gehört. Die Mehrheit, die diese Information erreicht hat, hat ihr jedoch überwiegend geglaubt. Insgesamt zeigen die Zahlen, dass positive und meist sehr überspitze Informationen ein größeres Verbreitungspotenzial haben als negative. Dass nur wenige Flüchtlinge von den brennenden Flüchtlingsheimen gehört haben, mag aber auch daran liegen, dass proportional nur sehr wenige Geflüchtete in Deutschland davon betroffen waren.

Positive Geschichten werden dagegen sowohl von Schmugglern als „Marketingargumente“ wie auch von vielen bereits angekommenen Flüchtlingen verbreitet, die aus Gründen der Gesichtswahrung dazu tendieren, ihre Flucht nach Deutschland als Erfolg darzustellen. Die Bilder, die in Deutschland sowohl die sozialen als auch die traditionellen Medien beschäftigten und für eine aufgeladene öffentliche Debatte sorgten, haben relativ wenige Flüchtlinge erreicht. Weniger als die Hälfte hatte vor ihrer Einreise Fotos der „Willkommenskultur“ an deutschen Bahnhöfen und weniger als ein Drittel ein sogenanntes „Selfie“ von einem Flüchtling mit Angela Merkel gesehen. Allerdings war der Glaube der Geflüchteten daran, dass die Bundeskanzlerin alle Flüchtlinge nach Deutschland eingeladen habe, ausgesprochen groß.

Je mehr Printmedien die Flüchtlinge in ihren Heimatländern konsumiert haben, desto weniger positiv verzerrt ist das Deutschlandbild. Dies lässt sich vermutlich dadurch erklären, dass Printmedien meist einheimische Medienangebote sind, die wenig über Deutschland berichten und in den hier abgefragten Herkunftsländern zumeist Protokollnachrichten liefern, die in der Auslandsberichterstattung zumeist auf negativ konnotierte Inhalte wie Katastrophen und Konflikte fokussieren.

Weitere Informationen zur Studie:  http://www.polsoz.fu-berlin.de/kommwiss/arbeitstellen/internationale_kommunikation/Forschung/Flucht-2_0/index.html

Bildquelle: Flickr CC / Internews Europe: Sahal Gure Mohamed, 62, Texts on his Mobile Phone; Lizenzbedingungen: https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/

 

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