Neue Zürcher Zeitung, 29. April 2005
Eine Analyse der italienischen Wirtschaftszeitung
Mit einer Auflage von 380 000 Exemplaren ist die Wirtschaftszeitung «Il Sole 24 Ore» auflagenmässig die Nummer drei in Italien. Ein Fachartikel erläutert, weshalb das Blatt ein verlegerisches Phänomen ist, das weltweit seinesgleichen suche.
Diese Erfolgsstory sucht ihresgleichen – nicht nur in Italien: «Il Sole 24 Ore» ist inzwischen noch vor der «Financial Times» Europas grösstes Wirtschaftsblatt. Vor rund vierzig Jahren aus einer Fusion zweier Wirtschaftstitel hervorgegangen, ist die Mailänder Zeitung heute mit über 380 000 Exemplaren auflagenmässig die Nummer drei im Lande – nach dem «Corriere della Sera» und «La Repubblica». Während in Deutschland der New-Economy-Boom auch eine Gründerzeit für eine Vielzahl neuer Wirtschafts- und Börsenzeitschriften war, konnte in Italien vor allem eine Zeitung, eben «Il Sole 24 Ore», vom verstärkten Interesse an Wirtschaftsthemen profitieren.
Zwischen den politischen Lagern
Das Blatt gilt zugleich als das politisch unabhängigste Blatt des Landes. Wie relativ das allerdings zu sehen ist, mag man daran ablesen, dass die Industriellenvereinigung Confindustria der Eigentümer ist. Es gilt vor allem im Vergleich zu den konkurrierenden Blättern und Fernsehsendern, die nach wie vor dem frönen, was der berühmte italienische Fernsehjournalist Enrico Mentana als «bi-regime» gebrandmarkt hat: Fast alle Medien ergreifen Partei – entweder für die Rechtskoalition unter Berlusconi oder für das Linksbündnis von Prodi. «Il Sole 24 Ore» dagegen ist zwar klar auf marktwirtschaftlichem Kurs und aller Linkstendenzen unverdächtig, anderseits gibt es im Unternehmerlager vor allem in den alten Industriellendynastien Italiens doch eine starke Fraktion, die zum neureichen, populistischen Emporkömmling Berlusconi Distanz gewahrt hat, so dass die Eigentümer das Blatt nicht auf klaren Regierungs- und Rechtskurs trimmen.
Der italienische Journalist Cristiano Draghi zeichnet in der Fachzeitschrift «Problemi dell'Informazione»* – im Rahmen einer Serie über die grossen Verlagsgruppen Italiens – die letzten zehn Jahre der Entwicklung von «Il Sole 24 Ore» nach und erläutert, weshalb das Blatt ein «verlegerisches Phänomen ist, das in Italien wie auch sonst in der Welt seinesgleichen sucht». Eine der Stärken sei der multimediale Ansatz: Das Kerngeschäft ist zwar die Zeitung geblieben, das Unternehmen hat aber zugleich erfolgreich in den Markt der Wochen- und Monatszeitungen expandiert, hat ein Internet-Portal, betreibt eine eigene Presseagentur, ein eigenes Radio, ist im Fernsehgeschäft aktiv und verlegt Bücher.
Über die Produktevielfalt hinaus sei der Erfolg von «Il Sole 24 Ore» auch der «hervorragenden Marketingstrategie» zuzuschreiben, die sich nicht auf die klassischen Zielgruppen des Wirtschaftsjournalismus beschränkt. Das inhaltliche Spektrum wurde systematisch erweitert, um ein breiteres Publikum anzusprechen. «Il Sole 24 Ore» ist die einzige Zeitung des Landes, die einen nennenswerten Abonnentenstamm vorweisen kann – alle anderen Blätter werden nahezu ausschliesslich über Kioske vertrieben. Vor kurzem wurde die Zeitung durch Regionalausgaben weiter diversifiziert, und auch sonst wird Leserbindung gross geschrieben. Die Eigentümerstruktur hat es ausserdem stets erleichtert, einen Grossteil des Unternehmensgewinns zu reinvestieren.
Journalistische Unabhängigkeit erkämpft
Auch dank dem kontinuierlichen kommerziellen Erfolg konnte sich die Redaktion eine journalistische Unabhängigkeit erkämpfen, um die sie anderswo in Italien beneidet wird und die ihren sichtbaren Ausdruck darin findet, dass kürzlich Ferruccio De Bortoli zum neuen Chefredaktor gekürt wurde – ausgerechnet der Mann, der auf Druck von Berlusconi beim grössten und angesehensten Blatt des Landes, beim «Corriere della Sera», zuvor den Hut nehmen musste.
Gleichwohl desillusioniert Draghis Blick hinter die Kulissen. Ein gut Teil seiner Analyse ist leidigen Personalia und damit dem Postenschacher «all'italiana» gewidmet. Das Glück, dem «Il Sole 24 Ore» seine relative Unabhängigkeit zu verdanken hat, ist eben die Tatsache, dass – anders als in den meisten Presseunternehmen des Landes – nicht ein einzelner Industriellenclan das Sagen hat. Fiat-Chef Gianni Agnelli, zu dessen Imperium nicht nur die Turiner Tageszeitung «La Stampa» gehörte, sondern der mittelbar stets auch den «Corriere della Sera» kontrolliert hat, soll einmal prophezeit haben, «Il Sole 24 Ore» werde früher oder später zur grössten italienischen Tageszeitung avancieren. Vielleicht behält er Recht – auch weil die Redaktion eher als die italienischen Konkurrenten den Anschluss an angelsächsische und mitteleuropäische Qualitätsstandards im Journalismus sucht.
* Cristiano Draghi: Dieci anni del «Sole 24 Ore», in: «Problemi dell'Informazione», 3/2004, Il Mulino, Bologna, S. 321-349.