Wie über Menschen mit Behinderungen berichtet wird

27. Oktober 2020 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik • von

Menschen mit Behinderung sind in den Leitmedien kaum sichtbar. Behindertenpolitik, schulische Inklusion und der Behindertensport bekommen noch eine gewisse Aufmerksamkeit. Arbeitsmarktfragen, persönliche Lebensumstände oder Freizeitgestaltung spielen dagegen kaum eine Rolle. 

Die Zahl der Menschen mit schweren Behinderungen steigt in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes seit Jahren an. Zum Jahresende 2019 lebten in Deutschland rund 7,9 Millionen schwerbehinderte Menschen, 136.000 oder 1,8 Prozent mehr als Ende 2017 (1). Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist fast jeder Zehnte von einer schweren Behinderung betroffen.  Die Arbeitslosenquote bei Menschen mit schwerer Behinderung ist rund doppelt so hoch wie bei Menschen ohne vergleichbare Einschränkung: sie lag im Jahr 2018 bei 11,2 Prozent im Vergleich zu 6,5 Prozent (2). Menschen mit Behinderung müssen deutlich länger als andere suchen, wenn sie eine neue Stelle benötigen und die gesetzliche Pflichtbeschäftigungsquote wird in der privaten Wirtschaft nach wie vor nicht erreicht.

Deutschland hat mit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Jahr 2009 Mit-verantwortung dafür übernommen, dass eine volle und wirksame Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und ihre Einbeziehung in die Gesellschaft erfolgt. (Art 3 c UNBRK). Wirksame Teilhabe oder Inklusion bezieht sich auf alle Lebensbereiche, wie Wohnen, Mobilität, Beruf, Freizeitgestaltung und persönliche Interessen.  Für die Gestaltung dieses politischen Prozesses ist eine kontinuierliche, umfassende und realistische Information der Bevölkerung unerlässlich.

Abbildung 1: Anteil Berichterstattung über Menschen mit Behinderung 2012-2016 (%) / Quelle: Vollbracht 2017, Seite 40, Basis: 1.245.261 Beiträge in 28 Medien

 

Menschen mit Behinderung in den Leitmedien kaum sichtbar

Die kontinuierliche Analyse zeigt, dass Menschen mit Behinderung in den Leitmedien deutlich unter der Wahrnehmungsschwelle (1,5 Prozent Anteil in der Berichterstattung) liegen. De facto liegt der Wert zwischen 2012 und 2016 eher bei 0,1 bis 0,3 Prozent. Am seltensten wird über Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung berichtet. Auf Basis des derzeitigen Informationsangebotes ist es schwierig für Menschen nachzuvollziehen, wie es um die gesellschaftliche Inklusion von Menschen mit Behinderung bestellt ist. Eine detailliertere Analyse der Themen der Berichterstattung in diesem Zusammenhang zeigt, dass noch am ehesten Behindertenpolitik aufgegriffen wird – zum Beispiel die Diskussionen im Vorfeld des Bundesteilhabegesetzes. Daneben bekommt schulische Inklusion eine gewisse Aufmerksamkeit und zu Zeiten von Paralympics auch der Behindertensport. Arbeitsmarktfragen, persönliche Lebensumstände oder Freizeitgestaltung spielen dagegen kaum eine Rolle (Vollbracht 2017, 45). Menschen mit Behinderungen sind damit noch wesentlich seltener in den Leitmedien vertreten als Kinder, Jugendliche, Senioren oder Familien.

Diskontinuierliche Information kann Stereotype verstärken und Probleme überlagern

Wirksame Inklusion geschieht nur in gesellschaftlichen Prozessen, in denen Anliegen und Bedürfnisse einzelner Gruppen für andere nachvollziehbar sind. Die Geschichte der Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen ist dagegen voller Stereotypen, die bekannteste Zusammenstellung geht auf Colin Barnes (1992) zurück. Menschen mit Behinderung werden demnach als bemitleidenswert und erbärmlich dargestellt, als Objekt von Gewalt oder unheimliche Täter, nicht selten ist eine Atmosphäre der Kuriosität vorherrschend, gerade im Zusammenhang mit Berichten über Sport und Inklusion findet sich die Zuschreibung herausragender Eigenschaften, wie übermenschlicher Willensstärke („Superkrüppel“). Auch wenn diese und weitere Stereotypen nicht kontinuierlich in allen Medienkanälen zu finden sind, gelten sie doch in der wissenschaftlichen Forschung als gut belegt. Vollbracht (2017) zeigt, dass die Berichterstattung über berufliche Inklusion rar, aber in der Regel von Erfolgsbeispielen geprägt ist, in nicht wenigen davon finden sich klare Bezüge zum Superkrüppel-Stereotyp (3). Der überwiegend positive Charakter der Einzelbeispiele in den Medien in Verbindung mit seltener Berichterstattung über die strukturellen Gründe für hohe Arbeitslosigkeit führt zum kontrafaktischen Eindruck, es sei um die berufliche Inklusion in Deutschland gut bestellt. Betriebe, welche die Pflichtquote von 5 Prozent nicht erfüllen, finden sich zahlreich bis hinauf die DAX30-Liste der größten börsennotierten deutschen Unternehmen.

Abb. 2 Themenfelder der Berichterstattung über Menschen mit Behinderung / Quelle: Vollbracht 2017, Seite 45, Basis: 1.245.261 Beiträge in 28 Medien, davon 334 Beiträge über Menschen mit Behinderungen

 

Die Berichterstattung über Menschen mit Behinderungen ist in Art und Umfang kaum als ausreichend zu bezeichnen, um den Status von gesellschaftlicher Inklusion nachverfolgen zu können. Die gesellschaftliche Relevanz des Themas bleibt weitgehend verborgen. Eine detaillierte Analyse der Berichterstattung über berufliche Inklusion zeigt, dass ein kontrafaktisches Bild vermittelt wird. Eine Reihe von Interviews mit Vertretern aus regionalen und überregionalen Medien offenbart, dass das Thema Behinderung und Inklusion in den meisten Redaktionen keine klare Verortung hat.

 

(1) Destatis, Pressemitteilung Nr. 230 vom 24.6.2020

(2) Bundesagentur für Arbeit (2020): Beschäftigungsstatistik schwerbehinderter Menschen

(3) Vollbracht, M. (2017): Besser als die Wirklichkeit? Berufliche Inklusion im Spiegel der Medien. InnoVatio, Zürich.

 

Literatur

Bundesagentur für Arbeit (2020): Beschäftigungsstatistik schwerbehinderter Menschen

Destatis, Pressemitteilung Nr. 230 vom 24.6.2020

Barnes, C. (1992): Disabling imagery and the media. An Exploration of the Principes for Media Represen­tations of Disabled People. The British Council of Organisations of Disabled People, 1992. Iin: https://disability-studies.leeds.ac.uk/wp-content/uploads/sites/40/library/Barnes-disabling-imagery.pdf, abgerufen am 18.08.2020.

Vollbracht, M. (2017): Besser als die Wirklichkeit? Berufliche Inklusion im Spiegel der Medien. InnoVatio. Zürich.

 

Bildquelle: pixabay.com

 

 

Dieser Beitrag wurde zuerst im „Bericht zur Lage der Informations-Qualität in Deutschland“, herausgegeben von Roland Schatz (Media Tenor), veröffentlicht.

Zum Thema: 

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