Den journalistischen Temporausch durchbrechen

5. Dezember 2016 • Digitales, Qualität & Ethik • von

Nun aber mal schön langsam! Warum es auch für den Online-Journalismus an der Zeit ist, mit gründlich recherchierten und ausführlichen Artikeln konzentrierte Leser zu gewinnen.

schneckeAlle sieben Minuten sehen moderne Menschen auf ihr Smartphone, um nur ja keine Nachricht zu verpassen. Die Zeiten, in denen wir alle geduldig auf die „Tagesschau“ oder die druckfrische Tageszeitung gewartet haben, sind vorbei. Geschwindigkeit scheint mehr denn je Trumpf zu sein: Die Benachrichtigung soll „in Echtzeit“ erfolgen!

Ob unter diesen Bedingungen Gründlichkeit noch vor Schnelligkeit rangiert, ist eine Frage journalistischer Sorgfalt. So alt wie die Beschleunigung sind die Klagen darüber. Als praktische Alternative wird regelmäßig Entschleunigung empfohlen: Verkehrsberuhigung statt Raserei, Slow statt Fast Food – warum also nicht „Slow Journalism“ statt Newsfeed, Push App, Twitter?

Experten wie der erfahrene amerikanische Rundfunkjournalist Peter Laufer fordern seit Jahren eine Besinnung auf gründlich recherchierte und ausführliche Artikel, wie sie in vielen Printmedien noch zu finden sind, auch für den Online-Journalismus. Statt mit einer immer rascheren Folge von Meldungen um die flatterhafte Aufmerksamkeit des Publikums zu buhlen, sollen konzentrierte Leser gewonnen werden. Diese sollen animiert werden, sich in lange Beiträge über wirklich Relevantes zu vertiefen statt gleich wieder zum nächsten Werbelink abzuschweifen. Entscheidend sind dabei die Fragen an uns Leser: Wie viele Nachrichten brauche ich eigentlich, was davon ist wirklich wichtig, und welche Dinge muss ich sofort erfahren?

Wie das niederländische Beispiel „De Correspondent“ zeigt, hegt das Publikum durchaus Sympathien für den langsamen Journalismus: Für den Start kamen in nur einer Woche eine Million Euro an Spenden zusammen. Repräsentative Befragungen ergeben außerdem, dass junge Onliner zwar rasch und mobil verfügbare Gratisnachrichten möchten. Immerhin ein Drittel der 15- bis 39-Jährigen kann sich auch für ausrecherchierte, investigative und gut erzählte längere Geschichten begeistern (Drok & Hermans 2015: 546).

An die Stelle rasch produzierter oder von den Pressestellen verschenkter Wegwerfware kann auch online wieder das Meisterstück treten. Zumindest aber kann das langsam produzierte und gelesene Stück den Temporausch des Alltags unterbrechen. Und das nicht nur in literarischen Nischen für ältere Herrschaften.

Laufer, Peter (2011): Slow News: A Manifesto for the Critical News Consumer. Covallis: Univ. of Oregon Press; Le Masurier, Megan (2015): What is Slow Journalism? Journalism Practice 9(2), S. 138-152

Drok, Nico/ Hermans, Liesbetzh (2015): Is there a Future for Slow Journalism? The perspective of younger users. Journalism Practice, 10(4), S. 539-554.

Erstveröffentlichung: tagesspiegel.de vom 4. Dezember 2016

Zum Thema auf EJO: Die Langsamkeit zur Tugend machen

Bildquelle: pixabay.com

 

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