Neue Zürcher Zeitung, 30. August 2002
Redaktionsmanagement als neues Forschungsthema
Warum berichten die Medien, was sie berichten? Was verleiht einem Ereignis Nachrichtenwert, weshalb wird es von Redaktionen als berichtenswert eingestuft und aufgegriffen? Jahrzehntelang haben Forscher Antwort auf die Frage gesucht, was von Journalisten als neu, wichtig und damit berichtenswert erkannt wird. Penibel haben die Wissenschaftler rund zwei Dutzend Faktoren registriert, die einem Ereignis zu Nachrichtenwert verhelfen und damit präjudizieren, ob es von den Medien vermeldet wird. Meist haben sie dabei einen Faktor übersehen: Lässt sich eine Meldung klar einem der Ressorts zuordnen, in denen sich redaktionsintern «die Welt draussen» abbildet, ist die Chance, dass sie veröffentlicht wird, deutlich grösser, als wenn die Meldung durch dieses Erkennungsraster durchfällt.
Jahrzehntelang haben somit die «klassischen Ressorts» – Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Lokales – im Zeitungsjournalismus, aber auch anderswo mediale Inhalte strukturiert. In vielen Redaktionen entstanden regelrecht Fürstentümer, und die Ressortleiter verteidigten mit Argusaugen ihre Autonomie. Dies führte dazu, dass wichtige Themen zu spät erkannt oder einseitig dargestellt wurden, andere dagegen doppelt behandelt oder auf widersprüchliche Weise «abgefeiert» wurden. Die paar Kommunikationsforscher, die sich für das Innenleben von Medienunternehmen interessierten, warfen den Journalisten Kästchendenken vor und beklagten den Mangel an Flexibilität in den Redaktionen – ohne allerdings so richtig zu registrieren, wie in den neunziger Jahren die starren Strukturen allmählich in Bewegung, ja ins Wanken gerieten.
Diesem Prozess hat Klaus Meier in seiner – inzwischen von der Deutsche Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft preisgekrönten – Dissertation nachgespürt: In einem mehrstufigen Forschungsprozess befragte er zunächst flächendeckend die Chefredakteure deutscher Tageszeitungen zum Redaktionsmanagement und filterte auf diese Weise eine Handvoll experimentierfreudiger, innovativer Redaktionen heraus. Ihnen widmete er sich dann in neuerlichen Befragungsrunden besonders intensiv.
Hochinteressant sind bereits die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, unter denen Redaktionen arbeiten. Die Redaktionsgrösse variiert auch innerhalb der jeweiligen «Auflagenklasse» stark, was die folgenden Beispiele verdeutlichen. Unter den Blättern mit 51'000 bis 100'000 Auflage gibt es je eine Zeitung, die von 38 und eine, die von 88 Redakteuren produziert wird. Noch krasser ist die Diskrepanz in der nächsthöheren Auflagengruppe (101'000 bis 200'000 Exemplare): Hier gibt es eine Zeitung, die von 32 Redakteuren gemacht wird, aber auch eine mit 225 Redakteuren. Stark schwankt auch die Ausbildungsbereitschaft, und zwar quer durch alle Redaktionsgrössen: Etwa die Hälfte der befragten Redaktionen beschäftigt weniger als fünf Volontäre, ein Viertel dagegen mehr als zehn.
Meier weist allerdings auf die begrenzte Vergleichbarkeit der Zahlen hin: Es gibt Verbünde, bei denen für mehrere unabhängige Lokalzeitungen ein gemeinsamer Mantelteil produziert wird, aber eben auch Zeitungshäuser, unter deren Dach ein und derselbe Titel mit einem Dutzend verschiedener Lokalausgaben erscheint. Schon diese unterschiedlichen rechtlichen und organisatorischen Konstruktionen lassen es als aussichtslos erscheinen, nach Patentrezepten für das Redaktionsmanagement zu suchen. Für jede Redaktion gilt es vielmehr, den eigenen Massanzug zu schneidern.
Immerhin scheinen sich die Chefredakteure solchen Herausforderungen – mehr denn je – zu stellen: Meiers Umfrage zufolge verstehen sie sich nicht mehr primär als «Edelfedern», sondern vor allem als Blattmacher und Redaktionsmanager. Dabei überrascht allenfalls, wie gering die Redaktionschefs den Stellenwert von Repräsentationsaufgaben veranschlagen. Es gibt ja inzwischen Blätter wie den «Berliner Tagesspiegel», bei denen die geschickte Selbstvermarktung des Chefredakteurs Giovanni di Lorenzo einen Teil des Erfolgskonzepts ausmacht – sowie in besseren Zeiten die damals neugeschaffene Marke DaimlerChrysler ja auch vom Nimbus des Top-Managers Schrempp profitiert hat.
Vor allem die jüngeren, neuberufenen Chefredakteure haben in den letzten Jahren mit Verve ihre Redaktionen umgebaut, um ihre Zeitungen leserfreundlicher und marktgerechter zu positionieren und damit auch die Qualität des journalistischen Produkts zu verbessern. Teilweise wurden neue Ressorts (z.B. Ratgeber, Wissenschaft, Medien) gebildet, der Trend scheint jedoch eher in die gegenteilige Richtung zu gehen: Durch Vernetzen und Zusammenführen von Ressorts (z.B. Politik und Wirtschaft) in grösseren Einheiten mehr Flexibilität zu gewinnen, um dann bei Bedarf temporär und ressortübergreifend Rechercheteams bilden zu können.
Den naheliegenden Verdacht, dass es zu Umstrukturierungen meist dann kommt, wenn in der Redaktion Stellen eingespart werden müssen, bestätigt Meiers Studie nicht. Zumindest in diesem Punkt dürfte sie allerdings bereits zum Zeitpunkt ihres Erscheinens überholt sein: Die Befragung wurde durchgeführt, bevor die Zeitungsbranche in ihre derzeitige Krise getaumelt ist. Als «nächste Herausforderung für Zeitungsredaktionen» sieht Meier die «Integration der Online-Ausgabe in den Newsroom der Printausgabe» kommen, denn «kaum eine Zeitung wird es sich leisten können, auf Dauer die gleiche Redaktionsstruktur – also alle Ressorts und Themenspezialisierungen» doppelt aufzubauen und weiterzuführen.
Dass sich Qualitätsverbesserungen im Journalismus nicht primär durch Förderung und Leistungssteigerung einzelner Edelfedern, sondern eher im Team und durch kreative Neukombination vorhandener Ressourcen erzielen lassen, ist auch die Botschaft von Vinzenz Wyss. Er hat sich seit mehreren Jahren an der Universität Zürich mit Arbeiten zum redaktionellen Qualitätsmanagement hervorgetan.
Als Ergebnis seiner Forschungsarbeit plädiert für etwas, was Journalisten in aller Regel ungläubig abwehren: Dass «Total Quality Management (TQM)», wie es vor Jahren in der japanischen Autobranche entwickelt wurde, nicht nur für hocharbeitsteilige und -routinisierte technische Fertigungsprozesse in der Industrie taugt, sondern auch für die Redaktionsarbeit. Sie lebt zwar zwangsläufig von der «Routinisierung des Unerwarteten», so die amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin Gaye Tuchman. Damit entzieht sich die Redaktionsarbeit jedoch Wyss zufolge keineswegs systematischen, «ganzheitlich» orientierten Qualitäts-Initiativen.
Noch spannender als das TQM-Konzept, das der Autor auf den Redaktionsalltag überträgt, liest sich der empirische Teil der Studie. Wyss hat nachgeforscht, inwiefern Schweizer Journalisten auf «Qualitätssicherungssysteme», also auf «qualitätsbezogene Regeln, Verfahren und Ressourcen» zurückgreifen. Die befragten Journalisten betrachten demnach durchaus Qualitätssicherung als «zentrale Aufgabe» der Redaktion. 63 Prozent von ihnen arbeiten sogar für Redaktionen, in denen bestimmte Qualitätsziele in Form redaktioneller Leitbilder festgeschrieben sind. Auf Grenzen stösst das redaktionelle Qualitätsmanagement vor allem deshalb, weil die meisten Journalisten nach wie vor ein eher diffuses Bild von ihrem Publikum haben – also Bedürfnisse und Wünsche ihrer «Kunden» nicht gut genug kennen, um auf sie wirklich eingehen zu können.
Daten zur Publikumsforschung gibt es zwar zuhauf, sie werden aber auch in den Schweizer Redaktionen selten zur Kenntnis genommen. «Kundenorientierung» scheint bei Medienprodukten allerdings auch deshalb schwierig, weil Leser, Hörer und Zuschauer ihre Präferenzen weniger klar artikulieren als Interessenten, die sich eine Waschmaschine oder ein neues Auto kaufen wollen. Von Wyss befragt, bringt der leitende Redakteur eines Nachrichtenmagazins das so auf den Punkt: «Das Verrückte in unserer Branche ist, dass Kundenzufriedenheit nur schwer messbar ist. Echte und scheinbare Bedürfnisse überlagern sich ständig. Wenn man den Leser nach seinen Wünschen fragt, so sagt er Information, meint aber Fun.»
Als grosses Handicap auf dem Weg zu mehr journalistischer Qualität macht Wyss mangelnde Mitarbeiter-Orientierung in den Medienhäusern aus. Vor allem bei den kommerziellen elektronischen Medien, aber auch bei Zeitungen und Zeitschriften beklagen sich vier von zehn Schweizer Redakteuren über eher ungenügende Weiterbildungs-Möglichkeiten. Beim öffentlichen Rundfunk empfinden dagegen 70 bis 80 Prozent der Befragten ihre Fortbildungs-Chancen als «optimal».
Die Welt ist also anders, als sie die Zeitungen mit ihren herkömmlichen Ressortstrukturen abbilden. Aber auch die Redaktionen mit ihren Ressorts und ihrem Innenleben sind offenbar anders, als sie die Medienwissenschaftler bisher wahrgenommen haben. Beide Studien indizieren also, wie wichtig es für Journalismus-Forscher ist, engen Kontakt zu den Redaktionen zu halten, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, Irrtümer ihrer Kollegen fortzuschreiben und weiterzuverbreiten. Wer allerdings weiss, wie ungern Redaktoren und zumal Redaktionschefs Fragebögen ausfüllen, obschon die Medien letztlich von der Auskunftsbereitschaft aller anderen leben, wird nicht allzu überrascht sein, dass auch die beiden vorliegenden Studien nicht vorbehaltlos alle «Redaktionsgeheimnisse» preisgeben. Gleichwohl sind es zwei «Meilensteine» für die Redaktionsforschung, die – zumindest im deutschsprachigen Raum lange Zeit eher vernachlässigt wurde.
Meier, Klaus: Ressort, Sparte, Team. Wahrnehmungsstrukturen und Redaktionsorganisation im Zeitungsjournalismus, Konstanz: UVK 2002, 493 Seiten.
Wyss, Vinzenz: Redaktionelles Qualitätsmanagement. Ziele, Normen, Ressourcen, UVK Konstanz 2002, 430 Seiten.