Alternativer Journalismus in Brasilien: Stimmen abseits der Massenmedien

8. Januar 2024 • Aktuelle Beiträge, Internationales • von

Die Avenida Paulista in der Metropole Sao Paulo. Bildquelle: Pixabay

Politische Instabilität, Markteinflüsse und veraltete Sichtweisen setzen den traditionellen Medien in Brasilien immer mehr zu. Die großen Rundfunk- und Fernsehhäuser richten sich nach den politischen Vorgaben und werden durch die Regierung sowie große Unternehmen finanziert sowie privatisiert. Die Bevölkerung fühlt sich in großen Teilen nicht mehr repräsentiert und der Anstieg der Nutzung von alternativen journalistischen Produkten zeigt dies. Was ist also alternativer Journalismus und warum hat er sich in dieser Form in Brasilien etabliert? Claudia Sarmento beschäftigt sich in vielen ihrer Veröffentlichungen mit dem Begriff des „alternativen Journalismus“ In ihrer neuen Monografie „Alternative News Reporting in Brazil“ aus 2023 (Palgrave Verlag) untersucht sie alternative Formen der Berichterstattung in Brasilien und geht auf die verschiedenen Standpunkte und Praktiken ein, die sich neben den traditionellen Medien in Brasilien etabliert haben. Ein Überblick über die Schwerpunkte der Veröffentlichung:

Bereits seit Jahren existieren in Brasilien politische Transformationen, die auch das Mediensystem stark verändern. Mit der Regierungsführung Bolsonaros bis 2022 entwickelten sich sowohl politische wie auch wirtschaftliche und soziale Krisen. Nach der Militärdiktatur wurden viele Maßnahmen die Demokratie im Land zu stärken nicht umgesetzt. Die Folge: Eine instabile Demokratie in ganz Brasilien. Unter instabiler Demokratie versteht die Autorin Journalismus und Verbreitungswege müssen sich seitdem immer wieder neu ausrichten. Zeitungen werden fast nur noch von der städtischen Elite konsumiert und die Fernsehsender sind großteilig privatisiert und durch Lizenzen an die Vorgaben der Regierung gebunden. Durch immer mehr Veränderung verschwimmen die Grenzen der journalistischen Angebote und es gründen sich Gruppen, die gänzlich von den traditionellen Wegen des Journalismus abweichen. Der alternative Journalismus, früher Ausdruck politischen Widerstands, wird heute vor allem von Gruppen genutzt, die den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Journalismus nicht mehr entsprechen und die sich in traditioneller Berichterstattung nicht repräsentiert fühlen.

Was ist alternativer Journalismus?

Alternativer Journalismus kann unterschiedlich verstanden und ausgelegt werden. So sind radikale politische Beiträge genauso eine alternative Form des traditionellen Journalismus wie auch die Nutzung neuer Verbreitungswege wie der sozialen Netzwerke. Journalist:innen, die selbst in den großen Medienhäusern tätig waren, diese aber aufgrund von Zweifeln an den Organisationsstrukturen verlassen haben, suchen für sich neue Wege der Nachrichtenverbreitung. Zusätzlich zu Journalist:innen, die neben den traditionellen Medien auch alternative Projekte unterstützen, nutzen auch Propagandisten die Möglichkeit selbst Nachrichten zu generieren und auf alternative Weise zu verbreiten. Sie alle haben gemeinsam, dass sie sich von den traditionellen Medienhäusern abgrenzen und die Nachrichten nach eigenen Vorstellungen gestalten, führt Sarmento in ihrem Text an. Oftmals wird alternativer Journalismus, der möglichst frei von politischen Vorgaben und wirtschaftlichen Faktoren ist, als Widerstand gegen verschiedene Formen der Macht verstanden. Die Macht der Medienproduktion wird hier in die Hände von Personengruppen gelegt, die sich von der traditionellen Berichterstattung nicht mehr repräsentiert fühlen. Den großen Medienunternehmen werden oft Stereotypisierung oder das Auslassen von bestimmten Gruppen vorgeworfen. Objektivität wird durch Interessensvertretung ersetzt und traditionelle Nachrichtenfaktoren sowie Grundlagen werden übergangen. Zum Beispiel ergreifen Bürger:Innen selbst die Initiative, berichten aus den Armenvierteln des Landes und fordern soziale oder politische Veränderungen. Die steigende Nutzung von Sozialen Medien hat zur Folge, dass auch alternative Formen des Journalismus in der brasilianischen Gesellschaft immer beliebter werden. Das ist daran zu erkennen, dass Produktionen außerhalb der großen Nachrichtenräume stattfinden. Des Weiteren besitzen alternative Journalismusformen nicht die Reichweite oder die finanziellen Mittel der großen Medienkonzerne, haben es aber geschafft sich immer weiter zu etablieren.

Warum ist alternativer Journalismus in Brasilien so wichtig?

Eine schwierige politische und soziale Situation, wirtschaftliche Krisen, Korruption und Populismus, sowie eine steigende Nutzung von sozialen Netzwerken haben den alternativen Journalismus in Brasilien populär gemacht. Der globale Trend zu neuen Werbungs- und Austauschwegen über das Internet beschleunigt die sinkende Nutzung klassischer Medien. Bereits in den Jahren 1964 bis 1985 zensierte und unterdrückte das damalige autoritäre Regime die Berichterstattung. Die Massenmedien unter der Kontrolle des Militärs wurden dafür genutzt, die staatliche Ideologie voranzutreiben. Bereits damals wurden alternative Wege gesucht, die Meinung der Regierung in Frage zu stellen und kritisch zu beleuchten. Die brasilianischen Großkonzerne sehen den alternativen Journalismus bis heute als einen, der die Regierung verurteilt. Die derzeitige instabile Demokratie in Brasilien wird weiterhin aus vielen Quellen kritisiert. So nutzen Bürger:Innen den alternativen Journalismus dafür, Grundlagen und Normen des Journalismus aufzubrechen und aus Perspektive der Bevölkerung zu berichten. Auch politische Gegenstimmen nutzen weiterhin die Chance und mobilisieren sich gegen die Regierung und für die Gesellschaft. Auch die Übernahme der westlichen Perspektive auf Themen in- und außerhalb Brasiliens wird bei alternativen Formen nicht übernommen. Die alternativen Medien versuchen eine eigene brasilianische Perspektive auf solche Themen zu verbreiten, die nicht der westlichen Meinung entsprechen muss.

Welchen Problemen begegnet alternativer Journalismus?

Vor allem die mangelnde Finanzierung hat zur Folge, dass alternativer Journalismus nicht denselben Stellenwert in Brasilien erreicht, wie die klassischen Medien. Auch wenn die Nutzung des Internets weiter steigt, fehlen Reichweite und finanzielle Mittel für die Umsetzung vieler Projekte. Obwohl Sponsoren circa 20 Prozent der Projekte unterstützen, die fragmentierte wirtschaftliche Lage macht eine Etablierung dieser neuen Form des Journalismus schwierig umzusetzen. Alternativer Journalismus orientiert sich kaum an wirtschaftlichen Bedingungen und unterliegt durch die lockeren Strukturen meist keiner typischen Redaktionshierarchie. So existieren in Brasilien viele kleine Medien, die ohne Gewinn arbeiten. Alternativer Journalismus löst sich vor allem von standardisierten Abläufen, Formaten und auch Meinungen. So bieten Blogs wie „Mural“ vielen Personen ein Sprachrohr, die sonst keine Möglichkeit haben, in den traditionellen Medien vorzukommen.

“So bieten Blogs wie „Mural“ vielen Personen ein Sprachrohr, die sonst keine Möglichkeit haben, in den traditionellen Medien vorzukommen. “Mural” berichtet aus den und über die gesellschaftlich benachteiligten Viertel der 12-Millionen-Metropole Sao Paulo, die auch “Periferias” genannt werden. Die Stadt ist geprägt von starken sozialen Unterschieden, Arbeitsmigration aus allen Teilen des Landes und nach der Pandemie sind Obdachlosigkeit und Drogenprobleme weiter gestiegen. Laut eigener Aussage möchte Mural den Menschen in der “Peripherie”, also am Rande der Gesellschaft, den Zugang zu Informationen erleichtern und eine Alternative zu stereotyper Berichterstattung in den Massenmedien bieten. Weitere Beispiele für alternative Medien finden sich unter anderem auch in Regionen des Landes, wo der Zugang zu Medien durch die geographischen und sozialen Bedingungen erschwert ist, zum Beispiel in der Amazonasregion. Auch Bevölkerungsgruppen mit einer besonderen Geschichte und sozialen Position produzieren ihre eigenen alternativen Medien, z.B. die Qilombos, Gemeinschaften der Nachkommen ehemaliger Sklav:innen.

Auf der einen Seite bieten derartige Angebote einen Vorteil für eine diverse Leserschaft, auf der anderen Seite kämpfen sie mit finanziellen Problemen. Ob der alternative Journalismus in Brasilien weiter an Beliebtheit gewinnen wird und für die traditionellen Medien in Zukunft eine wirkliche Konkurrenz darstellt, ist laut den Autor:innen des Buches  noch fraglich.

 

Referenzen:

Sarmento, C. (2023). Alternative News Reporting in Brazil. Springer Nature.

Projeto #Colabora https://projetocolabora.com.br/

Mural https://www.agenciamural.org.br/

 

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