Hinter der brasilianischen Landwirtschafts- und Lebensmittelindustrie stecken mächtige Interessen. Dies macht sie zu einem riskanten Gegenstand für die (investigativ-) journalistische Berichterstattung – aber auch zu besonders wichtigen. Neben Fragen des Umweltschutzes hängen diese eng mit der Nahrungsmittelsicherheit zusammen. Seit der Covid-19 Pandemie hat sich die Nahrungsmittelknappheit stark verschärft, was auch mit den Export- und profitorientierten Strategien der Konzerne in Verbindung steht. Die brasilianische Agrarökologiebewegung setzt sich dagegen ein und vertritt ein Verständnis von Lebensmitteln als Allgemeingut.
Fernanda Favaro, Doktorandin an der Universität von Malmö in Schweden, erforscht die Kommunikationspraktiken der Agrarökologiebewegung. Sie verwendet dafür eine ethnografische Methode und ist außerdem aktiv an der Arbeit der Bewegung beteiligt. Wir haben mir ihr darüber gesprochen, wie Medienforscher:innen sozialen Aktivismus, der auf die Lösung dringender Probleme abzielt, effektiv untersuchen können.
EJO: Was hat Sie dazu bewogen, sich auf den Lebensmittelaktivismus in Brasilien zu konzentrieren?
FF: Zunächst einmal mein persönliches Engagement für dieses Thema. Ich praktiziere Permakultur und Urban Gardening, ich bin aktiv in der Umweltbewegung „Transition“ in Schweden, wo ich derzeit lebe, und ich bin eine bekannte Kommunikatorin in der agrarökologischen Szene in Brasilien, wo ich herkomme.
Inspiriert wurde ich auch von den Bewegungen der Lebensmittelsolidarität, die durch die „Hungerkrise“ 2020 bis 2022 in Brasilien ausgelöst wurden. Während dieses Zeitraums, der durch das Zusammentreffen verschiedener Krisen gekennzeichnet war – COVID-19 war die schwerwiegendste -, befanden sich die meisten der 215 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer in unterschiedlichem Maße in einer unsicheren Ernährungslage. Ein Drittel der Bevölkerung litt Hunger. Da die staatlichen Netze und Maßnahmen zur Ernährungssicherung abgebaut wurden, hat die brasilianische Bevölkerung, erfüllt von einem Geist der Solidarität, ein beispielloses Netz von Aktionen und Initiativen zur Deckung des Notbedarfs geschaffen. Die Rolle der Medien für den Erfolg dieser neuen Verbindungen war ebenfalls enorm, da sie Teil eines breiteren Ökosystems von Kommunikationspraktiken wurden.
Während der Coronavirus-Pandemie litten in Brasilien viele Menschen unter akuter Nahrungsmittelknappheit. Der größte Teil der Bevölkerung des Landes hatte nicht genug zu essen- ein Drittel der Brasilianer:innen musste hungern. Die Pandemie hat die wirtschaftlichen Probleme des Landes noch verschärft. Außerdem kürzte die Regierung die Sozialhilfe für Bedürftige. Dadurch gerieten viele Menschen an den Rand des Hungertods.
Die Brasilianer:innen blieben jedoch angesichts dieser Probleme nicht untätig . Sie organisierten zahlreiche Initiativen, um Bedürftigen zu helfen. Digitale Medien spielten hier eine Schlüsselrolle, um Informationen zu verbreiten und Hilfe zu organisieren
Welche Rolle spielen die digitalen Medien in der brasilianischen Lebensmittelbewegung und wie hat sie sich seit der Pandemie entwickelt?
Sie spielen eine zentrale Rolle. Während der Pandemie wurden WhatsApp-Gruppen zur wichtigsten Plattform für Verhandlungen und die Organisation von Veranstaltungen. Sie haben dazu beigetragen, Allianzen zu stärken und die Gruppen von Kleinbauern bis hin zu einkommensschwachen Stadt- und Landbewohnern zusammenbringen.
In dieser Zeit der sozialen Distanzierung spielten digitale Technologien eine Schlüsselrolle dabei, die Bewegung am Leben zu erhalten, ihre Position in Netzwerken zu artikulieren und ihre Agenda zu fördern. Facebook, Instagram, Podcasts – all diese Plattformen wurden zu wichtigen Kommunikationskanälen. Die Bewegung tauschte sich über ihre WhatsApp-Gruppen aus, in denen sich Menschen an der Mobilisierung beteiligen konnten, und Kampagnen auf Crowdfunding-Plattformen wurden in Messengern geteilt.
Einige dieser Praktiken bestehen auch in der Zeit nach der Pandemie weiter, andere wurden eingeschränkt und wieder andere haben sich verändert. Diesen Übergang von der „Notsolidarität“ zu nachhaltigeren Ausprägungen zu untersuchen, ist ein Aspekt meiner Forschung.
Welches sind die größten Herausforderungen für Journalist:innen, die über Lebensmittelaktivismus und Agrarökologie in Brasilien berichten?
Es gibt viele Herausforderungen, aber vor allem sind Journalist:innen der Gefahr von Schikanen und Gewalt ausgesetzt. Leider ist Brasilien nach wie vor ein gefährliches Land für Investigativjournalist:innen und Umweltaktivist:innen im Allgemeinen. Dies gilt auch für Fachleute, die mit Basisbewegungen arbeiten, deren Aktionen die Hegemonie des brasilianischen agroindustriellen Systems in Frage stellen. Das ist auf Exportprodukte wie Soja, Mais und Fleisch, ausgerichtet.
Dieser Sektor der brasilianischen Gesellschaft, der als „Agro“ bekannt ist, ist eine mächtige politische und wirtschaftliche Gruppe, die sich aus großen landwirtschaftlichen Betrieben und großen agroindustriellen Tycoons zusammensetzt. Sie unterstützen ein Modell, das auf dem intensiven Einsatz von Agrotoxika (Pestizide/Agrochemikalien) und ausgedehnten Monokulturen basiert, die alle sechs brasilianischen Biome (Amazonas, Cerrado, Mata Atlântica, Pampa, Pantanal und Caatinga) betreffen. „Agro“ steckt hinter vielen Fällen von Landraub und Menschenrechtsverletzungen, insbesondere gegenüber der indigenen Bevölkerung, aber auch hinter Umweltverbrechen wie der Vergiftung von Flüssen, Böden und Gemeinschaften sowie unkontrollierten oder illegalen Brandrodungen.
Ein eindrucksvolles Beispiel für so etwas war der Fall der Wissenschaftlerin Larissa Bombardi, die in ihrem Buch die ungleichen „neokolonialen“ Beziehungen aufzeigte, wenn in Europa verbotene Pestizide nach Brasilien gelangen. Ihre beunruhigenden Erkenntnisse führten zu Morddrohungen und sie war schließlich gezwungen, das Land zu verlassen.
Könnten Sie uns mehr über das Konzept der „Lebensmittel als Gemeingut“ erzählen und wie es in Ihrer Forschung zustande kam?
Das Konzept „Lebensmittel als Gemeingut“ beruht auf der Idee, dass ein nachhaltiges und gerechtes Agrar- und Lebensmittelsystem von der Gemeinschaft getragen werden und auf die Bedürfnisse der Menschen eingehen sollte. Dieses Konzept sieht eine Vision des Lebensmittelsystems vor, in der Lebensmittel nicht als Ware, sondern als Gemeingut betrachtet werden, das allen Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status zur Verfügung steht.
Es ist eine Art Utopie, in der das Problem des Hungers der Vergangenheit angehören würde.
Brasilien, das für sein universelles Gesundheitssystem (SUS – Sistema Único de Saúde) bekannt ist, könnte ein Vorreiter bei der Förderung der Idee eines „universellen Ernährungssystems“ sein. Während meiner Feldforschung habe ich beobachtet, wie Aktivist:innen dieses Konzept in die Praxis umsetzten – zum Beispiel durch die Organisation von großen Gemeinschaftsfesten auf der Straße, um auf das Recht auf gesunde, saubere, gerechte und kulturell angemessene Lebensmittel aufmerksam zu machen.
„Essen als Gemeingut“ ist also eine herausfordernde, aber inspirierende Idee, die meiner Forschungsarbeit zugrunde liegt. Sie spiegelt den Wunsch wider, ein integrativeres und nachhaltigeres Lebensmittelsystem aufzubauen, das sich an den Bedürfnissen der Menschen und nicht am Profit orientiert.
Wie haben Sie die Methoden für Ihre Forschung ausgewählt?
Sie haben sich mir organisch erschlossen. Teilnehmende Beobachtung und Interviews sind für mich zu unverzichtbaren Instrumenten geworden, um die Beziehung zwischen Lebensmitteln und Medienpraktiken zu erforschen. Diese ethnografischen Ansätze ermöglichen es mir zu verstehen, wie kollektive Handlungen im Zusammenhang mit Lebensmitteln, unabhängig von der Nutzung digitaler Technologien, Pläne, Herausforderungen und Fortschritte bei der Veränderung des Agrar- und Ernährungssystems beeinflussen und gestalten.
In meiner Forschung betrachte ich Lebensmittel in einem breiten Kontext, vom Anbau bis zum Konsum. Diese ganzheitliche Perspektive ermöglicht es mir, die vielfältigen kollektiven Praktiken zu sehen, die die agrarökologische Bewegung in Brasilien beeinflussen. Die Methode der teilnehmenden Beobachtung ermöglicht es mir, in diese Praktiken einzutauchen und so eine respektvollere, kooperativere und offenere Perspektive zu gewinnen.
Während ich von Schweden aus forsche, untersuche ich, wie ich trotz meiner physischen Abwesenheit mehr Gegenseitigkeit erreichen kann. Das ist besonders wichtig, wenn wir in die intensive Phase der digitalen Ethnografie kommen.
Wie gehen Sie mit den ethischen Fragen um, die mit der Durchführung partizipativer Forschung mit gefährdeten Bevölkerungsgruppen verbunden sind?
Bei meiner Forschung halte ich mich strikt an die ethischen Grundsätze für die Arbeit mit Menschen, geltend sowohl in Schweden als auch in Brasilien, sowie an die GDPR-Vorschriften. Da meine Forschung in Brasilien über die Universität Malmö durchgeführt wird und die Daten auf einem schwedischen Server gespeichert sind, musste ich zusätzlich die Genehmigung der schwedischen Behörden einholen. Dieser Prozess dauerte zweieinhalb Monate, was unter anderem wegen der geplanten digitalen Datenerhebung in privaten WhatsApp-Gruppen notwendig war.
Unabhängig vom Ort der Forschung – physisch oder online oder in einem Mischformat – halte ich mich an das Schlüsselprinzip der informierten Zustimmung. Dazu gehört, dass die Teilnehmenden ausführlich über alle Aspekte der Forschung informiert werden, einschließlich Datenerfassung, -speicherung und -verarbeitung, Vertraulichkeit und faire Behandlung.
In der Praxis bedeutet dies, dass die Teilnehmenden anonymisiert werden, also, dass ihre Namen, Gesichter und alle Informationen, die zu ihrer Identifizierung führen könnten, verborgen werden. Besondere Aufmerksamkeit wird schutzbedürftigen Gruppen wie Kindern, Menschen mit Behinderungen oder Menschen, die in gefährdeten Gemeinschaften leben, gewidmet.
Bei der Arbeit mit visuellem Material, also Fotos, Videos, Social-Media-Beiträge, Kunstwerke, Poster und so weiter, orientiere ich mich am Kodex für Forschungsethik und an den Grundsätzen der International Association for Visual Sociology. Dieses Dokument bietet wertvolle Hinweise für die ethische Verwendung visueller Daten in allen Phasen der Forschung.
Gab es ein Ereignis auf dem Gebiet, das Sie dazu gebracht hat, den Zweck Ihrer Forschung zu überdenken?
Meine Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, aber eine kürzlich durchgeführte Untersuchung des Konzepts „Essen als Kommunikationssystem“, das erstmals von Barthes beschrieben wurde, hat mir neue Perspektiven eröffnet. Feldbeobachtungen haben gezeigt, dass Essen nicht nur ein kulturelles Artefakt mit starker symbolischer Bedeutung ist, sondern auch ein Vermittler – oder sogar ein Katalysator – für sinnvolle Dialoge, Austausch und Beziehungen. Dadurch erweiterte sich meine anfängliche Sichtweise von Lebensmitteln als Mittel zur Übermittlung politischer Botschaften auf das Verständnis von Lebensmitteln als eine Art „sozialer Klebstoff“. Menschen schaffen durch Lebensmittel Bedeutungen und Verbindungen, die zu Veränderungen in ihren Tätigkeitsbereichen führen.
Ich glaube, dass Lebensmittel mehr sind als nur ein Mittel zur Bekämpfung des Hungers. Sie können ein Mittel sein, um Isolation, Uneinigkeit, Polarisierung, Apathie, Verzweiflung und Entpolitisierung zu überwinden.
Auf meinen Reisen durch Brasilien war das Essen immer der „symbolische Ort“, an dem die Menschen begannen, über Hoffnung, Aktion, Solidarität und Mobilisierung zu sprechen.
Ein gemeinsames Essen in den städtischen Gärten löste beispielsweise tiefgreifende Diskussionen über die ethischen Aspekte des Veganismus in einem Kontext der Armut aus, in dem die Wahl der Lebensmittel oft eher von der Zugänglichkeit als von der Ideologie bestimmt wird. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Lebensmittel Verbindungen zwischen Menschen schaffen, die über den alltäglichen Nutzen hinausgehen.
Welchen Rat würden Sie anderen Medienwissenschaftler:innen geben, die sich für die Erforschung sozialer Bewegungen interessieren?
Obwohl es unterschiedliche Forschungsmethoden gibt, kann ich Ihnen versichern, dass Lebensmittelaktivist:innen in der Regel offen für die Zusammenarbeit mit Wissenschaftler:innen sind und die Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit zu schätzen wissen. Außerdem sind sie großzügige Menschen. Durch die Beobachtung natürlicher Zyklen, des Pflanzenwachstums und gemeinsamer Mahlzeiten wissen sie, dass „was geteilt wird, sich vermehrt“, wie Antonio Bispo dos Santos, ein brasilianischer Quilombola-Denker* sagte. Seine Ideen sind eine wichtige Quelle für meine Forschung.
Befolgen Sie die ethischen Standards der Forschung, aber hören Sie auch auf Ihr Herz. Intuition, Fürsorge und Gefühle spielen in der Forschung eine viel größere Rolle, als man gemeinhin annimmt. Scheuen Sie sich nicht, sich mit anderen auf den schmutzigen Boden zu setzen, etwas Persönliches zu erzählen, mit Kindern zu spielen. Ziehen Sie die „Sandalen der Demut“ an und hören Sie den Menschen mit offenem Herzen zu, indem Sie sich Ihrer eigenen Unvollkommenheit bewusst werden. Denken Sie daran, dass die Fehler, die Sie während Ihrer Forschung unweigerlich machen werden, Ihre Arbeit stärker und wertvoller machen können, wenn Sie darüber nachdenken.
Zuerst veröffentlicht auf der ukrainischen EJO-Seite. Veröffentlicht von Judith Odenthal mithilfe von DeepL.
Schlagwörter:Agrarökonomiebewegung, Brasilien, Ethnographie, Forschung, Nahrungsmittelsicherheit, Umwelt