Erstveröffentlichung: Weltwoche, Nr. 45 /04
Dass in Kriegszeiten die Wahrheit das erste Opfer ist, stimmt nur halb: Die Berichte vieler westlicher Reporter über den Terror in Beslan waren ein bewusster Anschlag auf die Objektivität.
Wir schreiben Tausende Agenturmeldungen und publizieren sie auf dem Internet, wir kommentieren am Fernsehen spektakuläre Bilder und sprechen stundenlang am Radio. Dennoch sind wir Journalisten selten Augenzeugen der Geschehnisse, über die wir berichten. Dies ist einer der Widersprüche des Geschäfts mit der Information aber keine neue Erkenntnis, denn bereits 1922 hat sie Walter Lippmann, einer der klügsten amerikanischen Intellektuellen, formuliert und auf Risiken hingewiesen.
Heute nehmen die Massenmedien, fiebrig und unersättlich, wie sie sind, einen immer grösseren Raum in unserer Gesellschaft ein, ohne dass sie deswegen transparenter oder zuverlässiger wären. Im Gegenteil: Der immer atemlosere Rhythmus der News-Zyklen hat die Abhängigkeit von indirekten Quellen verstärkt. Wie soll ein Redaktor des Tages-Anzeigers überprüfen, ob die Meldungen aus Falludscha der Wahrheit entsprechen? Wie soll das Schweizer Fernsehen sicher sein, dass die knackigen Bilder von den Unruhen in Bogotá oder Caracas authentisch und neu sind? Die Bilder sind schlicht unüberprüfbar. Es sei denn, man habe einen Korrespondenten vor Ort, was allerdings häufig nicht der Fall ist. Und oft genügt auch ein Mitarbeiter vor Ort nicht, denn im Zeitalter der Information wissen internationale Organisationen und Regierungen, ob demokratisch oder nicht, die Medien zu steuern. Autoritäre Regierungen benutzen dazu die Zensur, liberale Systeme die von Spin-Doctors ausgearbeiteten raffinierten Techniken, welche es vor allem in Krisenmomenten erlauben, Informationen einzufärben, ohne dass dies die Journalisten bemerken.
Vertreter der Geschwätzigkeit
Die Gelegenheiten, bei denen die Journalisten wirklich frei erzählen können, was vor ihren Augen passiert, sind äusserst selten. Eine solche Gelegenheit ergab sich bei einem der tragischsten Ereignisse der letzten Jahre: die Erstürmung der Schule von Beslan in Nordossetien Anfang September durch ein tschetschenisches Terrorkommando. Ich selber war einer von drei anwesenden italienischsprachigen Journalisten, und meine Behauptung mag unwahrscheinlich klingen: Wie ist es denkbar, dass ausgerechnet in Putins Russland, wo die Pressefreiheit massiv eingeschränkt sein soll, Chronisten unbehindert berichten konnten? Zum einen gab es zwar Zensurakte, doch richteten sie sich ausschliesslich gegen russische Medien, nicht gegen westliche; zum andern ist alles am hellichten Tage geschehen, vor den Augen von Tausenden von Menschen. Im Gegensatz zu den Vorkommnissen im Moskauer Dubrowka-Theater wo die Erstürmung nachts erfolgte und die Desinformationen der Regierung allumfassend waren, wie ich selber feststellen konnte (ich war auch dort dabei) waren im entlegenen Südrussland die Tentakel der Zensur viel weniger einschnürend. Die Bewohner erzählten in ihrer ossetischen Muttersprache, was die Russisch sprechenden Vertreter des Kremls verschwiegen, und es war möglich, nach dem Ende der Kämpfe die Überlebenden zu interviewen, um binnen kürzester Zeit die offiziellen Lügen zu entlarven. Trotzdem haben nicht alle Journalisten vor Ort diese aussergewöhnliche Gelegenheit ergriffen.
Die Mission eines Journalisten sollte darin bestehen, ausgewogen die Fakten zu beschreiben und die Berichterstattung möglichst von der Wiedergabe seiner Meinung zu trennen. Aber gerade während jener tragischen Tage haben einige die Thesenreportage bevorzugt und die Tatsachen ihren Meinungen gemäss zurechtgebogen. Auf der einen Seite standen die Zeitungen, die mit Objektivität über die Ereignisse in der Schule berichtet haben, etwa der überwiegende Teil der englischen Presse sowie, in Italien, der Corriere della Sera und Il Giornale. Auf der anderen Seite waren die Vertreter der Geschwätzigkeit, die alles vor den anderen verstanden hatten und, ohne zu zögern, die Schuldigen des Massakers nennen konnten: die ganze französische Presse, ob konservativ oder progressiv, und in Italien die Repubblica.
Den Ton bestimmen wie immer die Titel. Am Samstag, dem 4. September, hat der Figaro keine Zweifel: «Die Erstürmung wird zu einem Massaker». Dieselbe Linie fährt die Repubblica, welche auf der Frontseite von einer «Blitzaktion der Spezialeinheiten» schreibt und auf Seite zwei den Titel «Ossetien, massakrierte Geiseln» setzt. Die Unterzeile lautet: «Die Soldaten greifen die Tschetschenen an: Hunderte von Toten, darunter viele Kinder.» Ein wenig vorsichtiger ist die Libération: «Die Erstürmung der Schule endet im Chaos». Jenseits aller semantischen Nuancen ist die Grundaussage deutlich: Schuld am Blutbad ist die russische Armee, welche die Schule gestürmt hat. Aber war es wirklich so?
Wir Journalisten waren mit zwei Behauptungen konfrontiert: Laut der offiziellen Version hatten die Terroristen das Gemetzel zu verantworten, weil sie am Freitag um ein Uhr nachmittags zwei Minen explodieren liessen und begannen, die Kinder zu töten. Der zweiten, russenfeindlichen Darstellung zufolge waren es die Elitetruppen, die den Terroristen eine Falle stellten und unmittelbar nach den zwei Explosionen in die Turnhalle eindrangen, indem sie schossen und begannen, die Kinder zu befreien.
Mutwillig vermutet
Die Aussagen der Zeugen haben noch am selben Abend erlaubt, beide Versionen zu widerlegen. Die Minen explodierten zufällig, was sowohl die Terroristen überraschte von denen viele der Schulköchin zufolge in jenem Moment beim Essen waren als auch die Spezialeinheiten, welche sich grösstenteils in der anderen Schule von Beslan auf einen nächtlichen Sturm-angriff vorbereiteten und sich nach wenigen Minuten an den Ort des Geschehens stürzten. Dies erklärt, weshalb aus dem vermuteten Überraschungsangriff eine improvisierte Schlacht von acht Stunden wurde.
Allerdings hat diese Version in bestimmten Zeitungen nicht einmal Spuren hinterlassen. Die Korrespondentin von Le Monde, Natalie Nougayrède, schreibt am 4. September einen Artikel, in dem ausschliesslich die allesamt anonymen antirussischen Aussagen wiedergegeben werden etwa jene eines ossetischen Polizisten, der schildert, wie ein T-72-Panzer die Schule beschossen hat. Dies beweise, dass die russischen Behörden «die schnelle Tötung der Terroristen stärker gewichtet hätten als die Bemühungen um die Freilassung der Geiseln». Es stimmt: Ein Panzer hat gefeuert, aber die Projektile waren nicht scharf und sollten nicht die Geiseln töten, sondern den Eliteeinheiten eine Bresche schlagen. Und die Tatsache, dass ein russischer Vertreter anonymerweise zugab, «die Struktur der Schule analysiert zu haben, um zu wissen, ob das Gebäude im Falle einer Explosion zusammenstürze», ist laut der französischen Zeitung ein eindeutiges Indiz für die Pläne des Kremls. Das Ende des Artikels ist bezeichnend: «Spätnachts brachten Spezialisten die Minen zur Explosion, welche die Terroristen in der Schule platziert hatten. Offensichtlich wollten sie die Schule zerstören, um jedes für eine spätere Untersuchung wichtige Indiz unter einem Trümmerhaufen verschwinden zu lassen.»
Der Verdacht wird zur Regel. Leider betraten die Journalisten am folgenden Tag die unzerstörte Schule, wo die Spuren des Gemetzels überdeutlich waren. Aber Le Monde lässt nicht locker: Ein Riss unter einem Turnhallenfenster beweise, dass «die Explosion ausserhalb des Gebäudes erfolgte, weil die Backsteine nach innen gefallen sind». Dies stützt laut Nougayrède die These eines Angriffs der russischen Soldaten. Erneut werden die Aussagen der Überlebenden ignoriert, wonach die Terroristen ihre Minen ausserhalb der Turnhalle anbrachten. Bei der Rekonstruktion der Tragödie heisst es kurz darauf, die Spezialeinheiten hätten am Freitag um 13.21 Uhr «die völlige Kontrolle über das Gebäude errungen» also in lediglich 13 Minuten. Aber weshalb wurde dann bis am Abend gekämpft? Und warum verstrichen eine Stunde und zwanzig Minuten, bevor man die ersten Verletzten evakuieren konnte?
Ein weiteres Beispiel: Laut Repubblica sind «Dutzende von Helikoptern» eingesetzt worden. Wir haben sie mit eigenen Augen gesehen: Es waren zwei. Ausserdem kamen «Hunderte von Panzerwagen und Panzern zum Einsatz: Niemand hatte bemerkt, dass die halbe russische Armee auf dem Platz war», schreibt Korrespon-dent Visnetti. Es waren höchstens zwanzig Panzer. Und weiter: «Es ist undenkbar, dass ein derart massives und schnelles Eingreifen ohne einen im Voraus erarbeiteten Plan erfolgte», fabuliert die Repubblica. Wahr ist das Gegenteil: Die Aktion war langsam und unkoordiniert, und die ersten Angreifer waren nicht die Spezial-truppen, sondern die Väter der Geiseln und die Rekruten.
Schlachtreport vom Büro aus
Am 6. und 7. September schliesslich schildern die Repubblica, Libération und der Figaro die Anschuldigungen der Stadt Beslan gegen die russischen Behörden. Die Titel sind dramatisch: «Sagt uns die Wahrheit über das Massaker. Beslan revoltiert gegen Moskau» (Repubblica). Die Zeugenaussagen sind deftig etwa jene von Viktor, der gegenüber der Korrespondentin von Libération, Lorraine Millot, seiner Wut freien Lauf lässt: «Sie sind die Verbrecher, sie sind verantwortlich.» Ob es sich dabei um einzelne Episoden handelt, bleibt unerwähnt; auf alle Fälle herrschte in jenen Stunden eine tiefe, allumfassende Trauer vor, und der spürbare Zorn richtete sich nicht gegen Moskau, sondern gegen die Tschetschenen. Weisen wir schliesslich noch einmal auf die Repubblica hin, welche am 5. September die Schlacht in einer Reportage schildert, die in Moskau geschrieben wurde von einem Korrespondenten, der nie einen Fuss nach Beslan gesetzt hatte.
Ich könnte weitere Beispiele aufzählen, lasse es aber dabei bewenden. Meine Kritik hat sich gegen grosse, mehrheitlich linke europäische Zeitungen gerichtet, wie Libération, Le Monde, und die Repubblica. Unbestreitbar hat die marxistische Kultur, von der viele europäische Journalisten geprägt sind, eine entsprechende Schlagseite. In anderen Fällen waren es aber rechtsstehende Medien, welche eine ideologische und darum falsche Sicht auf die Wirklichkeit vermittelten (zum Beispiel Fox News während des Irakkrieges). Fatalerweise verseucht dieses Virus immer mehr den ganzen Beruf, wodurch seine Glaubwürdigkeit geschwächt wird. Es zu bekämpfen, ist die Pflicht all jener, die ob politisch links- oder rechtsstehend nach wie vor an eine korrekte Vermittlung von Informationen glauben.
(Übersetzung: Sandro Benini)
Schlagwörter:Beslan, Spin Doctors, Terror, Walter Lippmann