Alles im Blick? 360°-Videos im Journalismus

22. Mai 2018 • Digitales • von

360°-Videos gelten als „ the next big thing”. Schon jetzt revolutionieren sie die Computerspielindustrie. Auch Journalisten nutzen zunehmend die Möglichkeit, ihre Geschichten in 360°-Videos zu erzählen. Doch ein journalistisches Massenprodukt sind sie noch längst nicht.

Berlin ist ein technologisches Zentrum für Virtual Reality (VR) und 360°-Start-up-Unternehmen. Genau deshalb gründete Martin Heller IntoVR wohl auch in der Hauptstadt. Ein mehrwöchiger Aufenthalt im amerikanischen Silicon Valley 2016 weckte beim ehemaligen Chef der Videoabteilung der Welt den Unternehmgeist. Nur einen Monat nach seiner Rückkehr nach Deutschland, startete er die kleine Firma, die sich auf die Produktion von 360°-Reportagen spezialisiert hat.

Christiane Wittenbecher kennt Martin Heller aus dem WELT-Team. Die Journalistin engagiert sich bereits seit Beginn in dem Start-Up und ist seit Januar 2018 feste Mitarbeiterin der Firma. Die beiden Räume von IntoVR sind klein und das Team besteht nur aus einer handvoll Leuten. Die 360°-Branche ist eben überschaubar, genauso wie die Technik, mit der sie arbeitet: Die Kameras sind handgroß und lassen sich kompakt verstauen. Auch das Zubehör – Mikrofone, Beleuchtung und Stative – nehmen kaum Platz weg. Bei einem Dreh reicht daher auch ein Rucksack für die Technik, mit dem Christiane Wittenbecher, wie die meisten ihrer 360°-Kollegen, alleine unterwegs ist. Und auch sonst bleibt meist alles in einer Hand: Von der Recherche, über das Drehen, das Schneiden und „Stitchen“ (Panoramen erstellen) sowie die Postproduktion.

360°-Reportagen sind Entdeckungsreisen, sagt Christiane Wittenbecher. Einmal die Brille auf, soll sich der Zuschauer als Teil der Geschichte fühlen. Um authentische Bild zu liefern, reist die junge Frau viel um die Welt: Thailand, Irak oder die Ukraine waren nur einige ihrer Ziele in den vergangenen zwei Jahren. Es sind Szenen wie die des kurdischen Soldaten, der sein Gewehrlauf direkt auf den Zuschauer hält, die den Atem stocken lassen. Durch die 360°-Technik hat man die Möglichkeit seine Augen abzuwenden, indem man einfach den Kopf dreht.

In klassischen Fernsehreportagen werde die Richtung vorgegeben, sie seien deshalb nicht so „erkundbar“, sagt Christiane Wittenbecher. Es ist dieses „sich als Teil der Szene fühlen, was den Reiz ausmacht“, so die Journalistin, die ihre Karriere klassisch beim Fernsehen begann. Die Arbeit am Drehort unterscheidet sich stark von einer herkömmlichen Fernsehproduktion. Gerade die Zusammenarbeit mit den Protagonisten war anfänglich gewöhnungsbedürftig, sagt Christiane Wittenbecher: Denn der Journalist darf nicht im Bild zu sehen sein – und das in alle Richtungen. 360 Grad eben. Ein sonst übliches „Hinter-der-Kamera-Stehen“ ist damit nicht mehr möglich. Der Journalist stellt die Kamera ein, versteckt sich gut und hofft, dass der Interviewte die zugerufenen Fragen versteht und beantwortet.

Der Markt für journalistische 360°-Produkte ist stark ausbaufähig

Ein Hauptkunde der Firma IntoVR aus dem Medienbereich ist die Schweizer Zeitung Blick, die sich auf dem deutschsprachigen Markt bisher am stärksten für die Herstellung von 360°-Material einsetzt. Ihre Filme, darunter auch Produktionen von IntoVR, kann man kostenlos auf dem Youtube-Kanal oder mit Hilfe einer mobilen App anschauen.

Mit einer eigenen App, die ausschließlich zum Anschauen von 360°-Filmen dient, können außer Blick nur wenige europäische Medien aufwarten. Dieses Produkt haben sonst nur die großen Redaktionen der deutschen, britischen und französischen öffentlich-rechtlichen Medien im Angebot, die sich ein großes Team oder externe Produktionsfirmen wie IntoVR leisten können und wollen.

Einen besonders guten journalistischen Ruf auf dem 360°-Videomarkt hat der amerikanische Mediengigant New York Times. Das Nutzerinteresse scheint aber mäßig zu sein, 360°-Videos werden eher selten nachgefragt. Die New York Times verzeichnet in diesem Bereich 100.000 bis 500.000 Downloads, gefolgt von Guardian, Blick und dem WDR, die jeweils zwischen 10.000 und 50.000 Downloads registrieren. (Google Play-Daten)

Journalisten, die sich auf 360° spezialisieren, stehen vor einer komplexen Aufgabe. Ihre Filme sollten sich auch auf traditionellen Bildschirmen zeigen lassen. Der Mausklick oder das Bewegen des Telefons ersetzen dann die Kopfbewegungen mit der VR-Brille. Nur so macht man Zuschauer außerhalb der Computerspielbranche neugierig, sich VR-Brillen zuzulegen. Nur ein schönes Panorama aufzunehmen, reicht nicht. Es braucht eine interessante Geschichte, um dem Zuschauer tatsächlich ein “mittendrin” bieten zu können.

Geschichten werden zukünftig alle 360° erzählt? Eher nicht.

Es ist ein sehr unwahrscheinliches Szenario, dass die Zuschauer schon in einigen Jahren  ihre Lieblingssendungen massenhaft mit VR-Brillen anschauen werden. Man sollte jedoch nicht außer Acht lassen, dass sich die mit virtueller Realität verbundenen Technologien in den vergangenen Jahren mit einem enormen Tempo entwickelt haben und es auch weiterhin tun. Dabei sind 360°-Video-Produktionen nur ein kleiner Teil dieses Fortschritts. Es entstehen Unternehmen, die sich mit erweiterter Realität, fotogrammetrischem Scannen oder der „volumetric capture“-Technologie, die das Scannen eines Menschen in 3D ermöglicht und den Scan in einem Computer-generiertem Umfeld platziert, beschäftigen.

All das ist neu und stellt die Frage, inwiefern sich der Mensch in ein künstlich gebildetes Umfeld integrieren kann. Menschen werden sich in der virtuellen Realität mehr und mehr zu Hause fühlen können. Und das bedeutet, dass auch Journalisten die Zuschauer mit dieser neuen Technologie erreichen werden müssen.

Erstveröffentlichung auf Polnisch:Czy wideo 360° przeniesie dziennikarstwo w nowy wymiar?

Bildquelle: pixabay.com

 

 

 

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