Dem Publikum geben, was das Publikum interessiert, klickt, nachfragt – das ist der fundamentale Wandel, der sich seit einiger Zeit auch im deutschen Journalismus beobachten lässt, und der von mehreren Medienschaffenden auf einem Symposium am Institut für Journalistik (IJ) der TU Dortmund eindrücklich bestätigt wurde. Dabei geht es allerdings nicht darum, Clickbait zu produzieren. Vielmehr fragen sich Journalisten: wen können und wollen wir mit unseren Inhalten erreichen? Und über welche Wege?
Michael Bröcker, Noch-Chefredakteur der Rheinischen Post in Düsseldorf und bald Gabor Steingarts wichtigster Mann in Berlin, betonte, dass Regionalzeitungen nicht aus der ganzen Welt berichten müssen. Andere können das ja auch besser. Aber die eigene Stadt sollte dafür in „360 Grad“ abgedeckt werden, auf allen Plattformen, mit allen zur Verfügung stehenden Medienformen. Noch mache das niemand in Deutschland wirklich konsequent, so Bröcker.
Diese geographische Fokussierung wird Bröcker aber selbst bald aufgeben und sich stattdessen thematisch fokussieren. Für Gabor Steingart soll er ein Angebot für Entscheider aus Politik und Wirtschaft aufbauen – eine relativ kleine, aber zahlungskräftige Zielgruppe. Vergleichbar wäre so etwas mit Politico, sagte Bröcker auf dem Symposium des IJ.
Lokale #Tageszeitungen müssen nicht die Welt auf 40 Seiten liefern. Aber ihre Stadt dafür 360 Grad. Warum soll das nicht funktionieren sagt .@MichaelBroecker (bald bei .@Gaborsteingart) beim #Symposium 25 Jahre #Online –#Journalismus am #IJ der #TU #Dortmund pic.twitter.com/X5n0E4VfbQ
— Nordstadtblogger.de (@Nordstadtblog) 3. Mai 2019
Zum Teil wird Bröcker dann wohl auch um Leser des Handelsblatt buhlen. Martin Dowideit, seit April Head of Product der Handelsblatt Media Group, erläuterte auf dem Symposium, wie das Unternehmen möglichst viele zahlende Digital-Abonnenten gewinnen möchte. Dazu gehört vor allem, Abonnenten Geschichten und Inhalte zu bieten, die sie interessieren und zu loyalen Nutzern machen. Denn ein Digitalabo ist schnell gekündigt und der Wettbewerb hart.
Diskussion zu #Online –#Journalismus: „Es macht ja keinen Sinn, konsequent am Leser vorbeizuschreiben“ sagt Martin Dowideit vom #Handelsblatt am #IJ der #TU in #Dortmund zu Reichweitenanalysen unter Abonnenten #Medien
— Alexander Völkel (@alexpresse) 3. Mai 2019
Ob Paid-Modelle die wirtschaftliche Zukunft des Journalismus sichern können, ist noch eine offene Frage. Andere Medien, wie Ruhr24.de, ein Reichweitenportal der regionalen Medienhäuser Lensing Media und Rubens, setzen auf die Refinanzierung durch Werbung und Native Advertising. Ruhr24-Redaktionsleiterin Bianca Hoffmann berichtete auf dem Symposium, wie ihre Redaktion durchgehend prüft, wie viel Traffic auf die Seite kommt und wie die Reichweite weiter gesteigert werden könnte. Der Nutzer und das, was er wirklich will, sollen im Vordergrund stehen. Dieses Journalismus-Modell hat in der Vergangenheit viel Kritik auf sich gezogen. Dass Reichweitenoptimierung für Journalisten ein schmaler Grat ist, räumte auch Hoffmann ein. Es muss daher auch rote Linien geben, z.B. in sensiblen Bereichen wie der Suizidberichterstattung.
Zwar ohne ökonomischen, dafür aber mit jeder Menge legitimatorischem Druck versucht funk, das junge Contentnetzwerk von ARD und ZDF, eine flüchtige Zielgruppe zu erreichen: die 14- bis 29-Jährigen. Deshalb gehen funk-Formate gezielt auf einzelne Plattformen. Helge Haas, bei Radio Bremen u.a. verantwortlich für Bremen Next und mehrere funk-Formate, erläuterte, wie systematisch einzelne Gruppen mit speziellen Formaten angesprochen werden sollen. Denn in der funk-Zielgruppe der 14-29-Jährigen versammeln sich verschiedenste Lebenswelten, junge Menschen mit ganz unterschiedlichen Herausforderungen und Interessen. Eine 17-jährige Abiturientin nutzt ganz andere Angebote als ein 28-jähriger Uni-Absolvent, der eine Familien gründen will. Darauf müssen die funk-Macher eingehen.
Eine Fokussierung auf Publikumswünsche und –interessen wurde und wird immer wieder kritisch diskutiert (vgl. z.B. Thomas 2016; Fürst 2018). Aber die Zeit des medialen Lagerfeuers, in der einzelne Formate gesamte Gesellschaften vor einem Endgerät versammeln konnten, sind lang vorbei. In einer Medienwelt der brutalen Konkurrenz um Aufmerksamkeit (nicht nur zwischen journalistischen Angeboten, sondern auch Konkurrenz mit pseudo-journalistischen Inhalten, wie Content Marketing oder Influencern) bleibt auch Journalisten nichts anderes übrig, als sich an den Interessen und der Nachfrage der verschiedenen Publika zu orientieren. Sonst drohen die publizistische Bedeutungslosigkeit und der wirtschaftliche Bankrott.
Wichtiger ist nun vielmehr zu überlegen: Woher wissen wir überhaupt, was die Interessen und Wünsche unseres Publikums sind? Reichen uns die Real-Life-Zahlen auf dem Chartbeat-Dashboard? Oder braucht es nicht ein umfassenderes Verständnis, wer unser Publikum ist oder sein könnte und was es will?
Literatur:
Fürst, Silke (2018): Popularität statt Relevanz? Die journalistische Orientierung an Online-Nutzungsdaten. In: Thorben Mämecke, Jan-Hendrik Passoth und Josef Wehner (Hg.): Bedeutende Daten. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 171–204.
Thomas, Ryan J. (2016): In Defense of Journalistic Paternalism. In: Journal of Media Ethics 31 (2), S. 86–99. DOI: 10.1080/23736992.2016.1152895.
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