Narrativ, teilinvestigativ – und radikal subjektiv: funk-Reportagen prägen einen neuen ‚Neuen Journalismus‘

13. Juni 2023 • Aktuelle Beiträge, Forschung aus 1. Hand, Qualität & Ethik, Redaktion & Ökonomie • von

Die Otto-Brenner-Stiftung hat mit der Studie „Journalistische Grenzgänger – Wie die Reportage-Formate von funk Wirklichkeit konstruieren“ eine kontroverse Debatte über Subjektivität im Journalismus und eine Rückkehr des „New Journalism“ ausgelöst.

Die Reportage-Formate des öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerks funk sollen eine junge Zielgruppe ansprechen. (Foto: Marcus Kreutler)

STRG_F, das Y-Kollektiv, reporter, follow.me reports oder Die Frage – es mag sein, dass diese Formate des öffentlich-rechtlichen Content-Netzwerks funk gerade älteren Mediennutzern nichts sagen. In der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen knacken die Reportagen mit Titeln wie „Viva la Vulva – Wie sehen Frauen eigentlich zwischen den Beinen aus?“, „CFD-Trading: Wer sind die YouTube-Typen, die dich reich machen wollen?“ oder „Wie echt ist Porno – mit Anny Aurora“ auf YouTube mühelos die Marke von mehr als fünf, teilweise sechs Millionen Aufrufen. Mehr als eine Million Nutzer:innen haben dort die Kanäle von STRG_F und Y-Kollektiv abonniert. Diese Reichweite und die damit verbundene journalistische Relevanz sowie die medienjournalistisch oft kritisch diskutierte Machart der Formate rechtfertigen einen wissenschaftlichen Blick. Für die Otto-Brenner-Stiftung untersucht die Studie „Journalistische Grenzgänger – Wie die Reportage-Formate von funk Wirklichkeit konstruieren“ erstmals die fünf funk-Formate, die bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im April 2022 dort in den Kategorien „Information“ und „Reportage“ mit einer nennenswerten Beitragszahl gelistet waren.

Die Auswertung der 1.155 Videos mittels einer quantitativen Inhaltsanalyse zeigt, wie konsistent die wegen der großen Dominanz von Reporter:innen vor der Kamera auch als „Presenter-Reportagen“ bezeichneten Formate einen neuen subjektiven Journalismus prägen. Zentrale Befunde der Studie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Während erzählerische Tiefe und authentische Subjektivität insbesondere STRG_F und Y-Kollektiv als Qualitätsjournalismus eines neuen Typs ausweisen, verengen die Reportagen insgesamt thematisch und geografisch, wobei sie erstaunlicherweise ‚blinde Flecken‘ traditioneller Medienangebote replizieren.

Die wichtigsten Erkenntnisse der Studie im Überblick:

  • Themen: Der thematische Schwerpunkt der funk-Reportagen liegt formatübergreifend weniger auf gesellschaftlichen Themen wie Politik oder Wirtschaft (26,8 Prozent), als vielmehr auf Lebensweltthemen (52,2 Prozent) mit einer hohen Bedeutung für die junge Zielgruppe (zum Beispiel Sexualität, Drogen, Gesundheit/Krankheit und insbesondere Jobs/Berufe). Insgesamt ist das Themenspektrum aber breit ausdifferenziert.
  • Thematisierung: Als Strategien der Zielgruppenansprache bedienen sich die Reportagen ganz überwiegend (90,6 Prozent) einer gefühlsorientierten Thematisierung, deutlich seltener einer skandalorientierten (nur 5,9 Prozent).
  • Berichterstattungsmuster: Zu dieser emotional-erzählerischen Ansprache passt auch, dass eine aktualisierte Form des subjektiven New Journalism als Berichterstattungsmuster klar dominiert (79 Prozent), während klassisch narrative (8,6 Prozent) und investigative Muster (5,1 Prozent), die beide auch für den New Journalism charakteristisch sind, deutlich seltener allein auftreten und andere journalistische Konzepte quasi nicht vorkommen.
  • Darstellungsformen: Wie aufgrund der Auswahl der „Reporter:innen“-Formate als Untersuchungsgegenstände zu erwarten, ist die Reportage die dominante Darstellungsform (79,6 Prozent), wird aber durch Elemente des Interviews vielfach zu einem narrativ-dialogischen Hybrid ausgeformt. Als häufigste Formen treten Personen-(Porträt-), Milieu- und Rollenspiel-Reportagen (Selbstversuche) auf; 95,7 Prozent der untersuchten Reportagen enthalten zudem die explizite Meinung der Reporter:innen vor der Kamera.
  • Quellen und Akteure: Eine breite Auswahl verschiedener Quellenformen ist in den Reportagen selbst nicht erkennbar: Stattdessen sind in vier von fünf Beiträgen der untersuchten funk-Formate (80,3 Prozent) entweder Protagonist:innen oder Reporter:innen die zentralen Informationsquellen. Andere Quellen, insbesondere non-personale Quellen wie Dokumente, werden dagegen deutlich seltener (sichtbar) in die Reportagen eingebunden, regelmäßig aber unter den Videos verlinkt. Reporter:innen und Protagonist:innen dominieren nicht nur als Informationsquellen, sondern sind auch die hauptsächlich handelnden Akteure in den Filmen, während z.B. Expert:innen, Vertreter:innen des Staates oder der Zivilgesellschaft deutlich seltener als Handelnde auftreten.
  • Länder und Orte: Deutschland ist mit 85,9 Prozent eindeutig das zentrale Ereignisland. Über Themen mit Auslandsbezug berichten nennenswert nur Y-Kollektiv (28,1 Prozent) und STRG_F (24,9 Prozent). Während ein Drittel aller Beiträge bundesweit ‚spielt‘, dominieren die jeweiligen Produktionssitze der untersuchten ARD-ZDF-funk-Formate die gewählten Bundesländer der Berichterstattung: Berlin, NRW, Hamburg und Bayern kommen deutlich häufiger vor als beispielsweise die ostdeutschen Bundesländer. Die meisten Themen sind zudem in (westdeutschen) Großstädten angesiedelt; kleine und mittlere Städte sowie Dörfer sind dagegen nur in rund elf Prozent der untersuchten Beiträge Orte des Geschehens.
  • Ereignisbewertung: Anders als aufgrund der publizistischen Mechanismen sozialer Medien zur Gewinnung von Aufmerksamkeit zu erwarten, wird die prozentuale Mehrheit der behandelten Themen/Ereignisse nicht negativ (38,3 Prozent), sondern neutral bewertet (45,5 Prozent). Auffällig sind hier die Unterschiede zwischen den Formaten: Die investigativen STRG_F und Y-Kollektiv zeigen eine absolute Mehrheit negativer Beiträge, während beispielsweise bei follow me.reports jeder dritte Beitrag sein Thema positiv rahmt und Die Frage mit 83,3 Prozent in vier von fünf Beiträgen eine neutrale bzw. ausgeglichene Perspektive wählt.
  • Tendenz: In mehr als 97 Prozent aller Beiträge ist eine subjektive Tendenz (oft durch die Reporter:innen) erkennbar, eine objektive Thematisierung wurde kaum vorgenommen (in weniger als drei Prozent der Beiträge), was konsistent zu vielen Ausprägungen anderer Kategorien auf eine insgesamt radikal subjektive Perspektive deutet.
  • Qualität: Formatübergreifend sind insbesondere Authentizität (90,6 Prozent), Partizipativität (82,9 Prozent), Emotionalität und Exklusivität (beide 78,1 Prozent) sowie Narrativität (69,5 Prozent) stark ausgeprägt. Damit werden eher unterhaltende, erzählende und gefühlsorientierte Kriterien erfüllt. Transparenz, Nutzwert und Reflexivität sind hingegen in der Mehrheit der Beiträge nicht gegeben, auch Ansprüche an Relevanz und Vielfalt können in einem maßgeblichen Teil der Beiträge (jedem vierten bzw. jedem dritten Beitrag) nicht eingelöst werden.

Zusammengefasst erfolgt die journalistische Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit in den Reportagen der untersuchten funk-Formate überwiegend über Lebensweltthemen, die gefühlsorientiert an die jungen Zielgruppen vermittelt werden. Durch Interviews hybridisierte Reportagen, die sich vor allem Personen, sozialen Milieus und journalistischen Selbstversuchen widmen, nutzen die Konstellation aus Reporter:innen und Protagonist:innen, um Geschichten, die mehrheitlich in deutschen Großstädten ‚spielen‘, aus einer stark subjektiven Perspektive und unter expliziten Meinungsäußerungen der Journalist:innen zu erzählen. Der New Journalism prägt als absolut dominantes Berichterstattungsmuster die Wirklichkeitskonstruktion der funk-Reporter:innen-Formate, wurde unter den Bedingungen von Social Media jedoch für die junge Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen aktualisiert und für Web-Video-Formate modifiziert, zum Beispiel über die aktive Rolle von On-Reporter:innen oder Aufrufe an das Publikum zur Kommentierung der Inhalte am Ende eines Beitrags.

Stichwort: New Journalism.
Der „New Journalism“ ist eine Strömung innerhalb des Berichterstattungsmusters des narrativen Journalismus, der durch Autoren wie Norman Mailer, Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe in den 1960er und 70er Jahren insbesondere in den USA populär wurde. Ähnlich wie das aus dem Film „Fear and Loathing in Las Vegas“ verwandte Muster des „Gonzo-Journalismus“, der dessen Eigenschaften radikalisierte, setzt der New Journalism auf einen offenen Subjektivismus des Reporters, innere Monologe, dramatische Szenen und ausführliche Dialoge. Formen eines neuen „Neuen Journalismus“, der die Bedürfnisse junger Zielgruppen unter den Bedingungen von Social Media adressiert, finden sich heute auch bei Medien wie Vice oder BuzzFeed News.

Die Rezeption der Studie, die hier anhand der medienjournalistischen Berichterstattung nach der Publikationen laufend dokumentiert wird, hat zu einer breiten Debatte über Subjektivität im Journalismus geführt: Während die einen darin einen eklatanten Verstoß gegen journalistische Objektivitätsideale sehen, der insbesondere öffentlich-rechtlichen Angeboten nicht zustehe, bewerten andere die Reportagen als subjektive Nischenangebote für junge Zielgruppen, die den oft trockenen, vermeintlich ‚objektiven‘ Informations- und Nachrichtenjournalismus erzählerisch und emotional ergänzen können.

 

 

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