Ulrich Scher im Gespräch: “Das ist kein Wettbewerb, den sie durch ein Foto gewinnen können”

11. April 2022 • Aktuelle Beiträge, Qualität & Ethik, Redaktion & Ökonomie • von

Tageszeitungen und journalistische Verlage sind Medienunternehmen, die nach betriebswirtschaftlichen Kriterien handeln müssen. Dies gilt auch für alle fotobezogenen Themen, wird aber in der Debatte um die Rolle der Fotografie im Journalismus oft übersehen. Wo in diesem Themenfeld die Herausforderungen liegen, darüber sprach Felix Koltermann mit Ulrich Scher, Partner in der Unternehmensberatung Saar+Scher.

Sie sind als Unternehmensberater mit Schwerpunkt Medien und Tageszeitungen tätig. Kurz gefragt, wofür brauchen Tageszeitungen eine Unternehmensberatung?

Das ist eine gute Frage. Medienunternehmen rufen uns bevorzugt dann an, wenn sie Struktur-, Organisations-, Strategie- oder Personalthemen haben, bei denen sie nicht weiterkommen. Sie rufen an, wenn sie eine Branchenexpertise brauchen, für die es zu lange dauert, sie selbst aufzubauen, und wenn es Fragen gibt, die komplexe oder vielfältige Antworten erfordern, oder die intern kontrovers diskutiert werden, und bei denen externe Begleitung und Moderation helfen kann. Das können zum Beispiel Themen der Produktpositionierung, der Wirtschaftlichkeit oder Qualitätskonzepte sein. In den letzten Jahren waren das massiv Themen der digitalen Transformation. Und zwar in unseren drei Hauptfeldern: dem Redaktionellen dem Werbeverkauf und der Content-Vermarktung Digital und Print, also dem, was früher einmal „Vertrieb“ hieß. Die Themen sind dabei inzwischen teils so spezialisiert, dass sich das erforderliche Know-how auf Kundenseite oft nicht mehr im erforderlichen Tempo aufbauen lässt.

Ulrich Scher, Jahrgang 1971, ist Soziologe und berät seit 25 Jahren Medienunternehmen in der Geschäfts-, Organisations-, Personalentwicklung und digitalen Transformation in Redaktion, Leser- / Nutzermarkt und Werbevermarktung. Bildquelle: privat.

Ein wichtiges Stichwort in Bezug auf die Redaktionsorganisation war lange Zeit die Konvergenz. Wie ist es darum bestellt?

Zuerst einmal ist die Frage, was mit Konvergenz gemeint ist. Konvergenz war bis auf wenige Ausnahmen, die ich begleitet habe, das Zusammenbringen der Online- und der Printwelt. Nur in wenigen sehr speziellen Projekten ging es auch um das Zusammenbringen der Foto- und Textwelt. Aber der Begriff Konvergenz ist seit drei oder vier Jahren quasi ausgestorben. Vielleicht weil er ein Thema oder eine Aufgabe beschreibt, die weitestgehend erledigt ist, nämlich das Zusammenwachsen der Print- und der Digitalwelt zu organisieren. Konvergenz hieß früher, Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Biografien, die völlig unterschiedliche Dinge machen, überhaupt erst einmal ans Reden und in die Zusammenarbeit zu bringen. Diese Phase liegt in den allermeisten Fällen hinter uns. Was noch nicht heißt, dass es überall perfekt funktioniert. Heute redet man aber eher über „Digital First“ oder „Audience First“ als über Konvergenz.

Wenn ich jetzt zur Redaktionsorganisation noch das Stichwort Fotografie nenne, was sind da Ihre ersten Assoziationen?

Dass das früher viel wichtiger war. In den letzten Jahren ging es in unseren Projektumfeldern fast nur noch um Inhalte, um Content. Wobei unter Content aber wirklich das Wort, der Text oder Beitrag verstanden wird. So haben wir mit unseren Kunden sehr viel an Plus- und Premiumkriterien, an Leser- und Nutzerrelevanz der Inhalte gearbeitet. Aber das alles sind Kriterien, die ich eher an einen Text anlehne. Es ging darum: „Welche Themen brauchen wir? Wie muss die Ausrichtung sein? Wie kommen wir an Aufreger und Kontroversen? Wie steigern wir unseren Nutzwert? Wie geben wir den Lesern Orientierung oder helfen ihnen, bessere Entscheidungen zu treffen?“ All diese Kriterien, die die Verkaufbarkeit von Inhalten bestimmen, standen im Vordergrund. Das waren aber im wesentlichen Kriterien, bei denen es um das Wort, die Themen und die Inhalte im engeren Sinne geht.

Gleichzeitig ist es ja so, dass das Bild noch nie so wichtig war wie im digitalen Journalismus. Wie erklären Sie sich, dass man trotzdem so wenig drüber spricht?

Ich weiß nicht, ob man tatsächlich wirklich so wenig darüber spricht. Ich glaube, es gibt viele Online-Redaktionen, in denen das ganz anders ist. Ich merke auch, dass das Bild jetzt wieder wichtiger wird. Und zwar unter vielen Aspekten. In Print brauchen sie nicht für jeden Artikel ein Bild, online dagegen schon. In Zeiten, in denen die Ereigniswelt draußen vielfältiger war, konnte man das leichter bedienen als in der Coronapandemie mit dem hundertsten Spritzenbild. Das geht dann irgendwann nicht mehr. Gleichzeitig wird das Bild noch anspruchsvoller im Handling, je individualisierter die Angebote für die Leser*innen werden. Denn das große Ziel in vielen Verlagen ist, dass sie ihren Nutzern aus der Vielfalt der generierten Inhalte zunehmend passgenau die anbieten, die diese individuell suchen oder brauchen. D.h. es werden je nach Nutzertyp Inhalte nach oben gespült, die man, wenn man es rein nach journalistischen Kriterien macht, nicht zwingend nach oben gestellt hätte. Das können dann natürlich auch Inhalte sein, die in Print kein Bild hatten und für die sie Online dann ein nachgelagertes Archivbild nutzen und das draufpacken, um die erforderliche Bebilderung sicherzustellen.

Ansonsten glaube ich, dass die Wertigkeit des Bildes auch ganz massiv mit dem Medium zu tun hat. Bei Tageszeitungen zum Beispiel geht es um täglich einmalige Druckprodukte, wofür Papier und Druckmaschinen nötig sind, Dinge, die Millionen von Euro kosten. Online können wir beide heute Mittag für kleines Geld eine Homepage bauen und bei den Bildern aus zahlreichen Datenbanken und Archiven wählen. Und das aus einer Breite und in einer Tiefe, aus der kein Journalist früher schöpfen konnte. Aber das versendet sich halt auch sehr schnell. Bei den klassischen Printzeitungen gab es noch die Idee, dass ein einmal ausgewähltes Bild zwar schon für den spezifischen Tag, aber irgendwie auch für die Ewigkeit bestimmt ist. In ein Aufmacherbild wurden entsprechend viel Arbeit und Ressourcen gesteckt. Im Digitalen lebt man mehr damit, dass sich das versendet und vergänglich ist. Das schöne Bild steht eine Stunde oben, dann kommt das nächste Thema, bei dem man an den KPIs (Key Point Indicators; Anm. FK) sieht, dass Reichweite und Konvertierbarkeit besser sind, weswegen man es auf der Site hoch stellt, während der Artikel mit dem „schönen“ Bild runter und aus dem Blick rutscht.

Wenn wir aus einer rein betriebswirtschaftlichen Perspektive schauen, welcher Stellenwert kommt dann Redaktionsfotograf*innen und Bildredakteur*innen zu?

Das ist eine Fangfrage. (lacht) Ich kenne wirklich viele Redakteure und Journalisten. Aber wenn sie mich fragen, wie viele Bildredakteure und Fotografen ich davon kenne, dann ist das ein Verhältnis 5 zu 95. Bei den Regional- und Lokalzeitungen, für die ich viel arbeite, sind „echte“ Bildredaktionen schon historisch selten. Aber sie hatten angestellte Fotografen, zumindest für die Hauptausgaben. Noch früher sogar oft einen Fotografen pro Lokalausgabe.  In manchen großen Lokalredaktionen teils sogar zwei, damit man morgens und abends die Termine gut abdecken konnte. Das hat sich dann verlagert zu immer mehr Einsatz von Freien, erst in Ergänzung, dann als Ersatz. Und dann hat sich oft auch der Job des Fotografen geändert. Der wurde immer mehr zu einem Manager, zu einem Steuerer, zu einem Personalentwickler, zu einer Briefinginstanz von Freien.

Also ist ein eigener Fotobereich primär ein Kostenfaktor, bei dem sich immer die Frage stellt, will ich mir den leisten.

Absolut. Die Frage ist „Was kostet es? Was bringt es? Was kommt dabei heraus? Und welche Alternativen habe ich?“. Letztlich kommt es darauf an, worin der Wettbewerb besteht. Wenn Sie sich den deutschen Zeitungsmarkt anschauen, stellt man einen zunehmend hohen Konsolidierungsgrad fest. D.h. sie bewegen sich in sehr vielen Regionen und Städten nicht mehr direkt in Konkurrenz zum gleichen Medium, also der Zeitung, sondern zu Medien, mit denen sie auf ganz anderen Ebenen konkurrieren. Und selbst in den Bereichen ist es überschaubar. Mit anderen lokalen Onlineangeboten konkurrieren sie dann zwar. Aber das ist kein Wettbewerb, den sie durch ein Foto gewinnen können, auch nicht durch das journalistisch beste Foto. Es gibt da wesentlich existenziellere Themen.

Das heißt, eine gute, sehr gute oder exzellente Bildsprache ist im digitalen Journalismus gar nicht das Thema, da die Probleme andere sind, die sich etwa durch eine etwas lokalere und etwas exzellentere Bildsprache gar nicht regeln lassen.

Genau. Denn die Ursache, warum Menschen im Lokalen die Zeitung kaufen oder nicht, ist am Schluss nicht, ob da mal ein schlechtes Handybild zu sehen ist, sondern ob sie relevante Inhalte anzubieten haben.

Nochmal nachgefragt, wo genau liegen denn zurzeit die betriebswirtschaftlichen Herausforderungen auf dem Zeitungsmarkt?

Also erst einmal kommt an der betriebswirtschaftlichen Realität keiner vorbei. Wenn sie sich alleine dieses Jahr wieder anschauen, vor welchen Herausforderungen die Verlage stehen, dann ist das nicht nur der Papierpreis, der schon jetzt doppelt so hoch ist wie letztes Jahr. Dazu kommt der Mindestlohn. Und wir reden allein bei Zustellapparaten von kleineren oder mittleren Regionalzeitungen schnell von hunderten oder tausenden Menschen, für die die Erhöhung zu zahlen ist. Hinzu kommen jetzt noch gar nicht absehbare Zusatzkosten beim Energieverbrauch und noch schwer prognostizierbare Umsatzausfälle im Werbe- und Lesermarkt als wahrscheinlich rezessionsbedingte Folgen des Ukraine-Kriegs. Gleichzeitig bleibt es bei den Langfristherausforderungen einer altersbedingt schrumpfenden Kernleserschaft in Print und sich weiter reduzierenden Werbeerlösen, die sich über die letzten 20 Jahren mehr als halbiert haben. Die Folge ist, dass die Strukturen, mit denen Redaktionen heute unterwegs sind, bei weitem nicht mehr die sind und sein können, die sie früher waren. Gleichzeitig stehen diese Redaktionen aber vor der Herausforderung, dass Paid Content, echter Bezahljournalismus im Netz, ganz andere Anforderungen an die Inhalte und die redaktionelle Arbeitsweise stellt als der in Print. Der klassische Printkunde war gewissermaßen nachsichtiger und gnädiger. Der Digitalkunde ist nicht gnädig. Wenn der nicht permanent Neues liest, was auch relevant oder nutzwertig für ihn ist, ist er sofort wieder weg.

Wie kann unter diesen Bedingungen guter Journalismus entstehen?

Indem man, stark verkürzt gesagt, den Fokus auf Geschichten und Inhalte legt, die verkaufbar sind, weil sie nachgefragt und gebraucht werden. Dabei stehen Redaktionen vor der täglichen Herausforderung, aus Terminen relevante Themen zu machen. Ein reines Protokollieren und Nacherzählen, von dem, was zum Beispiel in einer Ratssitzung passiert, ist nicht paid-content-tauglich. Wenn man Inhalte verkaufen will, muss vielmehr erklärt werden, warum das für die Menschen wichtig ist, was da entschieden wird, welche Auswirkungen es auf ihr Leben hat, wie das einzuordnen ist und welche Meinungen es dazu gibt. Wie wir aus Marktforschungen wissen, sind das Anforderungen, die nicht nur Digital-, sondern auch klassische Zeitungsleser an ihr Medium stellen und zwar viel mehr als noch vor zehn Jahren. Erzählen was ist, hat vielleicht früher einmal gereicht, aber heute reicht das nicht mehr.

Abschließend nochmal gefragt: Wo liegt dann der Stellenwert der Fotografie?

Über eine Bebilderung kann man wirklich noch punkten, wenn das ein Add-on ist. Oder im Bereich der Bilderstrecken für die Reichweitensteigerung. Und wenn Sie mit Chefredakteuren von Regionalzeitungen reden, die jetzt mitten in der digitalen Transformation stehen, würden Ihnen ganz bestimmt auch viele zustimmen und sagen: „Klar. Bild ist wichtig und hat Potenzial. Optik hat Potenzial. Erklär- und Infografiken haben Potenzial“. Aber die würden Sie dann als nächstes fragen „Aus welchen Strukturen sollen wir das stemmen? Wir müssen jetzt erst mal einen Data-Analysten einstellen. Wir brauchen mehr Know-how in der Paywall-Steuerung und Verplussung. Wir benötigen einen Content-Manager, der die Inhalte steuert und unsere Redakteure täglich fit macht. Wir brauchen Mitarbeiter, die unsere Dashboards aufbereiten und interpretieren. Und vor allem brauchen wir dann noch Reporter, die uns diese Relevanzinhalte aufspüren, recherchieren und onlinegerecht aufbereiten. Und jetzt kommen Sie und sagen, Sie wollen das noch hübsch in Bildern. Wie soll das um alles in der Welt gehen und finanziert werden? Und haben wir nicht andere Prioritäten?“ Ich spitze es jetzt ganz bewusst ein bisschen zu, aber das ist die Realität, wie ich sie erlebe.

Herr Scher, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview ist Teil eines Projektes zur Bildredaktionsforschung von Felix Koltermann am Studiengang Fotojournalismus und Dokumentarfotografie der Hochschule Hannover.

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