Warum Klickzahlen den Journalismus verändern – und die Nutzer unverstanden bleiben
Die vieldiskutierte „Krise“ der Medien dreht sich längst nicht mehr nur um die einbrechenden Erlöse des Journalismus. Immer häufiger wird die Qualität der Medien in Frage gestellt, auch fernab vom pauschalen Vorwurf der „Lügenpresse“.
Zugleich ist es allerdings das Verhalten der Nutzer, das mehr denn je den Journalismus steuert. Zugespitzte Schlagzeilen und leichte Themen erregen viele Klicks und spülen Geld in die Kasse. Das verändert den Journalismus. Aber ist dies wirklich im Interesse der Nutzer?
„Putins Tochter und der Milliardär“ (spiegel.de), „Österreicher essen mehr als Amerikaner“ (diepresse.com) und „Teenager verursacht tödlichen Unfall bei Spritztour“ (faz.net) – das sind Schlagzeilen von derzeit meistgeklickten Beiträgen. In einer aktuellen Schweizer Studie sagt fast die Hälfte aller befragten Journalisten, dass Klickzahlen die Auswahl und Darstellung von Themen stark verändert haben (S. 19). Denn kaum ist die Story online, wandert der Blick schon auf die Daten. Erregt sie das Interesse der Leser? Was früher nur durch kostspielige und zeitaufwendige Publikumsforschung herausgefunden werden konnte, ist für Journalisten seit einigen Jahren jederzeit verfügbar. Klickzahlen gelten als die „Echtzeit-Quoten“ des Journalismus. Sie erlauben unmittelbare Anpassungen. Sollte der Beitrag doch anders platziert werden? Braucht es eine andere Schlagzeile oder muss der Kern der Nachricht anders dargestellt werden? Ein weiterer Blick auf die Daten zeigt dann, ob sich der erhoffte Effekt einstellt oder ob man zukünftig vielleicht besser die Finger von dem Thema lässt. Auch auf unerwartete Klick-Magneten kann reagiert werden: „Da setzen wir nach“ mit Updates und weiteren Beiträgen zum Thema.
Mit diesen technologischen Entwicklungen müsste sich die Beziehung zwischen Journalisten und ihrem Publikum eigentlich verbessern. Denn lange Zeit haben Journalismuskritiker und Journalismusforscher beklagt, dass Redakteure an ihren Lesern vorbeischreiben. Eigenbrötlerisch. Selbstzufrieden. An der Anerkennung und den Reaktionen der eigenen Kollegen orientiert. Von den Daten der Publikumsforschung wollten manche Redakteure lieber nichts wissen oder hatten keinen Zugang dazu. Bekannt waren vor allem die Verkaufs- und Abozahlen. Doch warum sich eine Zeitung an einem Tag besser verkaufte als an einem anderen, ließ sich nicht direkt feststellen. Ohne Publikumsforschung musste sich der Journalist beim Schreiben vor allem auf seine Intuition verlassen. Und die sagte ihm oft zu Unrecht: Der Leser ist an sensationellen Nachrichten und leichtem Unterhaltungsstoff interessiert. Zumindest nahmen dies Ende der 60er Jahre die Journalismusforscher Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher an. In ihrem einflussreichen Buch „Der mißachtete Leser“ forderten sie deshalb mehr Marketing ein. Jeder Journalist könne sich mit Hilfe von konkreten Nutzungsdaten beantworten, ob er mit den eigenen Beiträgen wirklich jene Leser gewinnt, die er erreichen wollte (S. 156).
Sind nun mit den stets präsenten Klickzahlen die Zeiten des missachteten Lesers endlich vorbei? Dazu liegen inzwischen rund 40 Studien vor. Und diese legen ganz andere Schlüsse nahe. Der Einzug von Klickzahlen in die Redaktionen folgt vor allem einer kommerziellen Logik. Aus dem Meer verfügbarer Daten sind jene ausschlaggebend, die sich als Werbewährung durchgesetzt haben. Dies sind noch immer die Zahl der Seitenaufrufe und die Anzahl der Nutzer. Es ist jedoch weithin bekannt, dass Klicken nicht Lesen bedeutet. Oft schauen sich Nutzer einen Beitrag nur wenige Sekunden an. Gerade die provokativen Schlagzeilen, sensationellen Nachrichten und prominenten Namen lassen viele Nutzer zunächst neugierig werden. Und viele Online-Zeitungen bedienen das. Doch oft verlassen Leser diese Seiten wieder genauso schnell wie sie sie gefunden haben. Gut recherchierte Beiträge zu aktuell relevanten Themen werden dagegen etwas weniger angeklickt, aber dafür tatsächlich gelesen. Hinweise darauf geben umfassende Datenanalysen der derzeit erfolgreichsten Analysesoftware Chartbeat, über die CEO Tony Haile berichtet.
Redaktionen verfügen auch über diese Daten. Zu Zeiten von Glotz und Langenbucher war das noch ein unvorstellbarer Traum. Unmittelbar nachverfolgen können, wie lange Nutzer auf einem Beitrag verweilen. Wie weit sie sich auf der Seite nach unten bewegen und dem Verlauf des Artikels folgen. Für den journalistischen Alltag spielt das heute trotzdem kaum eine Rolle. Im Netz gilt das als besonders populär und erfolgreich, was viel geklickt und verbreitet wird. Journalisten stöbern in sozialen Netzwerken und Suchmaschinen nach trendigen Themen und Schlagworten. Was richtig gut läuft, muss man selber auch verbraten. Das spült Traffic auf die eigene Seite. Nicht bei allen Online-Zeitungen hat sich dies gleich stark durchgesetzt.
Natürlich bringen Redaktionen auch die Themen, die sie für wichtig halten. Professionelle Kriterien werden nicht über Nacht begraben. Aber sie verändern sich schleichend, wenn es einen neuen Maßstab gibt, der als objektiv gilt und es zugleich den Werbekunden recht macht. Welches Thema sollen wir bringen, was ist wichtiger? Über Relevanz lässt sich trefflich streiten. Klickzahlen scheinen dagegen eindeutig zu sein. „Na ja, man muss ja nur mal online schauen, dann sieht man, ob das ein Thema ist“, sagt ein befragter Journalist in einer deutschen Studie.
Das ist kein Einzelfall. Internationale Studien zeigen, dass in Redaktionskonferenzen über Klickzahlen diskutiert wird. Sie sind ein gewichtiges Argument. Und verglichen werden kann alles in wenigen Sekunden. Wie schlagen wir uns im Verhältnis zur Konkurrenz? Welche Art von Themen treiben die Klickzahlen nach oben? Wer sind unsere trafficstarken Autoren? In diesem Wettbewerb werden Redakteure auch gepusht. Mehr Bezahlung für hohe Klickzahlen. Konkrete Zielvorgaben, was reingeholt werden muss. Aufforderungen, die eigenen Beiträge in sozialen Netzwerken zu promoten. Der Journalist als Marketing-Manager in eigener Sache.
Das bleibt nicht ohne Wirkungen. Mehrmals täglich checken viele Journalisten die neuesten Bewegungen auf der Webseite. Ganz oben blinkt die Anzahl der Nutzer. Als „Top Pages“ werden die Beiträge aufgelistet, die am meisten angeklickt wurden. Damit stellt sich für Journalisten die Frage: Ist meine Geschichte auch dabei? Wie kommen meine Beiträge an? Hohe Klickzahlen bringen Hochstimmung an den Arbeitsplatz: „Yes, tschacka!“, die Geschichte läuft. Wer im Vergleich mit den Kollegen schlecht abschneidet, ist betroffen, ja zum Teil deprimiert.
Die Zugriffe auf einzelne Beiträge sind oft niedriger als man früher dachte. Darunter leiden auf Dauer das Selbstwertgefühl und die Zufriedenheit mit der eigenen Arbeit. Chartbeat weiß das natürlich, bekommt Rückmeldung aus den Redaktionen, dass die Zahlen oft gar nicht für gute Stimmung sorgen (S. 16). Deshalb versucht die Softwarefirma positive Elemente einzubauen. Ein „broken dial“ springt dem Journalisten entgegen, wenn er mit einem Beitrag einen neuen Klick-Rekord erzielt. Warum zerspringt das Messgerät? Journalisten sollen nicht wissen, wie hoch ihr Rekord genau ist, denn vielleicht sind die Zahlen nur minimal höher. Anstatt ernüchternder Genauigkeit wieder zurück in die Zeit, als man sich sein Publikum noch vorstellen durfte. Doch Funktionen wie das „broken dial“ erhöhen wohl allenfalls den Sarkasmus darüber, dass Boulevardthemen am ehesten zum neuen Rekord taugen. Etwa eine Geschichte zu David Beckhams Unterwäsche (S. 16), wenn es sonst nicht gut läuft. Nachrichtenseiten, die ihre Seriosität nicht aufs Spiel setzen mögen, wollen solche boulevardesken Geschichten zumindest nicht zum Aufhänger des Tages machen. Aber manchmal können selbst traditionelle Medienmarken wie CNN der Versuchung nicht widerstehen.
Es geht also mehr denn je darum, den Nutzer zu verstehen. Was lädt ihn wirklich zum Lesen ein? Wozu braucht er die Zeitung und den Journalismus? Leser sollten sich nicht durch Beiträge klicken, um sich zu fragen: „Was sind das denn für Nachrichten? Ist das wirklich das wichtigste Geschehen des Tages?“ (S. 764) Die Missachtung des Lesers beginnt heute damit, dass Online-Zeitungen nicht eine Kernleserschaft erreichen und binden wollen, sondern nach allen Nutzern fischen, die im Netz nach irgendetwas suchen. Wer Klickzahlen mit dem gleichsetzt, was das Publikum will, hat die Maßstäbe der Werbekunden zu seinen eigenen gemacht und vergessen, dass Journalismus in den Augen der Nutzer von vielfältigen Themen und Stimmen und einer glaubwürdigen Berichterstattung lebt. Auch im Netz wollen Leser wissen, was die wichtigsten Themen des Tages sind, was den gesellschaftlichen Diskurs entfacht.
Die neuen technologischen Möglichkeiten sind also nicht Selbstzweck. Es kommt darauf an, wie sie gebraucht werden. Sie können Hinweise dazu liefern, welche Themen und Geschichten die Nutzer zum Lesen einladen und sie wiederkommen lassen. Am Ende des Tages muss der Journalist sich zudem ein eigenes Urteil leisten können. Und zwar: Unabhängig von einem Blick auf die aktuellen Daten mit der journalistischen Qualität seiner Arbeit zufrieden zu sein.
Dieser Artikel basiert auf einer wissenschaftlichen Veröffentlichung, die die internationale Forschung zum Thema systematisiert und kritisch diskutiert:
Fürst, Silke (2016): Popularität statt Relevanz? Die journalistische Orientierung an Online-Nutzungsdaten. In: Mämecke, Thorben / Passoth, Jan-Hendrik / Wehner, Josef (Hg.): Bedeutende Daten. Modelle, Verfahren und Praxis der Vermessung und Verdatung im Netz. Wiesbaden: Springer VS Verlag (in Vorbereitung).
Abbildung: Die Journalistin einer kleinen New Yorker Tageszeitung erklärt, was die meistgeklickten Beiträge des Tages sind. Oben links wird die Anzahl der aktuellen Nutzer eingeblendet. Rechts daneben zeigt eine Kurve die Zugriffe der Nutzer im Tagesverlauf an. Screenshot aus der Arte-Dokumentation „Journalismus von morgen – Die virtuelle Feder“, 2012. [zum Video]
Silke Fürst hat für diesen Beitrag den EJO-Preis für die beste Vermittlung von Wissen aus Medien- und Journalismusforschung in journalistischer Form bekommen, der ihr am 12. November 2015 im Erich-Brost-Institut für internationalen Journalismus in Dortmund verliehen wurde.
Nachfolgend die Begründung der Jury, die sich aus Susanne Fengler, Professorin für internationalen Journalismus an der TU Dortmund und Leiterin des deutschen EJO-Teams, Marlis Prinzing, Professorin für Journalistik an der Macromedia Hochschule in Köln und Tobias Eberwein, Senior Scientist an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Institute for Comparative Media and Communication Studies, zusammensetzte:
„Die Autorin gibt in ihrem Beitrag ‚Die Klickzahlen-Falle: Warum Klickzahlen den Journalismus verändern – und die Nutzer unverstanden bleiben‘ einen hervorragenden Überblick über das Themenfeld. Der Artikel verfügt über einen stark ausgeprägten Bezug zur aktuellen Journalismus- und Medienforschung sowie zur Praxis. Die Autorin hat zudem das Ziel, einen für Laien verständlichen Transfer zu leisten, sehr gut umgesetzt. Auch die auf weitere Studien verweisenden Links im Artikel haben wir als sehr gelungen bewertet. Ein sehr gut geschriebener und recherchierter Beitrag, der mit Sicherheit auf EJO nicht nur angeklickt, sondern auch gelesen werden wird.“
Schlagwörter:Chartbeat, Echtzeit-Quoten, Klickzahlen, Leser, Nutzer, Publikum, Publikumsforschung, Traffic