Aufklärung über Unaufgeklärtes

3. November 2008 • Qualität & Ethik • von

Neue Zürcher Zeitung, 31. Oktober 2008

Von den US-Medien unterbelichtete Themen im Fokus. Einmal pro Jahr listen amerikanische Wissenschafter 25 Themen auf, welche ihrer Meinung nach von den grossen Medien unterbelichtet werden. Sie betreiben dabei ein aufwendiges Verfahren.

Das Vorhaben steht im Schatten der Pulitzer-Preise – aber medienpolitisch ist es womöglich die wichtigere Initiative: Jedes Jahr zeichnet das an der Sonoma State University in Kalifornien beheimatete «Project Censored» 25 Geschichten aus, die nach Ansicht der Juroren einen hohen Nachrichtenwert haben und dennoch von den «mainstream media», also den grossen Zeitungen und Fernsehstationen der USA, links liegengelassen wurden.

Wie viele Tote im Irak?

So hat die Jury in ihrem kürzlich vorgelegten Report «Censored 2009» darauf aufmerksam gemacht, dass noch nicht einmal annäherungsweise bekannt sei, wie viele Todesopfer der Irak-Krieg bisher gefordert habe. Die Schätzungen lägen sehr weit auseinander. Ein britisches Demoskopie-Institut, Opinion Research Business, habe 2007 aufgrund einer Befragung von über 2400 erwachsenen Irakern aus 15 der 18 Provinzen die Todesopfer hochgerechnet und sei bei 1,2 Millionen Opfern seit Kriegsbeginn angelangt. Im Oktober 2006 habe die britische medizinische Fachzeitschrift «Lancet» eine Studie der John Hopkins University veröffentlicht, die sich auf vier unabhängige Quellen stützte und 655 000 Tote hochrechnete. Die Nachrichtenagentur AP gehe dagegen davon aus, dass 2005 und 2006 über 27 500 Iraker kriegsbedingt ihr Leben verloren.

Das US-Militär selbst habe angeblich keine Zahlen – was die Jury verwundert, weil General Petraeus im Herbst letzten Jahres dem Kongress berichtet habe, die Zahl der zivilen Todesopfer sei innerhalb von neun Monaten um 45 Prozent zurückgegangen. Die Jury zeigt sich insbesondere erstaunt darüber, wie wenig Aufmerksamkeit die jüngste und bei weitem höchste Schätzung seitens der Medien erhalten habe.

Bereits im Vorjahr hatte «Project Censored» moniert, die Medien hätten es versäumt, über Ereignisse im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg zu berichten, und sie hätten auch nicht in angemessener Weise auf Einschränkungen der Menschenrechte und der zivilen Freiheiten in den USA aufmerksam gemacht.

Spannend ist, wie die Juroren jeweils ermitteln, was von den Mainstream-Medien zu wenig beleuchtet wird: Vorschläge kann jedermann unterbreiten. Damit ein Thema weiterverfolgt wird, muss es zumindest in einem Medium aufgetaucht sein – sei das eine Fachpublikation, eine Website oder eine alternative Zeitschrift wie «Mother Jones». In Seminaren stellen dann Studenten – statt herkömmliche Seminararbeiten zu schreiben oder Prüfungsfragen zu beantworten – die Dossiers zusammen, welche später zur Entscheidungsgrundlage der Jury werden: Nachrecherchiert werden muss, was an den Vorschlägen dran ist, und zu prüfen ist auch, ob die jeweilige Geschichte tatsächlich nicht von bedeutenderen Massenmedien aufgegriffen wurde. Während die Sonoma State University das Projekt viele Jahre im Alleingang betrieb, ist es inzwischen gelungen, 23 weitere Hochschulen zu beteiligen.

Die letzte Entscheidung trifft eine Jury. Unter deren Mitgliedern finden sich durchaus klangvolle Namen, wenn auch einseitig aus dem linken Lager. Man braucht allerdings deren manchmal etwas schlichte Sichtweisen auf den Konzernjournalismus nicht zu teilen, um als nützlich zu empfinden, was sie mit ihrer Arbeit Jahr für Jahr an Diskursen anstossen.

Für den Soziologieprofessor Peter Phillips, der das Projekt seit einigen Jahren leitet, hat vor allem das Internet die Projektarbeit verändert. Es habe eine Gegenöffentlichkeit entstehen lassen. Viele Geschichten, mit denen sich die Jury befasse, kämen von dort. Und ohne die Datenbanken von Lexus-Nexus und Google sei es heute undenkbar, zu recherchieren, ob eine Story womöglich doch von den Massenmedien aufgegriffen wurde.

«Strenggenommen müsste es <Project Underreported> heissen», meint Peter Laufer, der als Journalist aufmerksam die Medienszene in Kalifornien beobachtet. Denn es gebe ja keine staatliche Zensurbehörde, und alle 25 Beiträge, die Jahr für Jahr ausgegraben und gewürdigt werden, seien schliesslich irgendwo publiziert worden – nur eben nicht in den wichtigeren Medien der USA. Laufer unterstreicht allerdings auch die Verdienste von «Project Censored»: «Es trägt zur Qualitätssicherung im Journalismus bei, und es macht die Öffentlichkeit darauf aufmerksam, wie leicht sich oftmals Journalismus gezielt beeinflussen lässt.»

Viele Medien ignorieren die Initiative

Das Projekt erzielt offenbar Wirkung, auch wenn Philips darüber klagt, dass die grossen Zeitungen, aber auch Fachblätter wie die «Columbia Journalism Review» und die «American Journalism Review» die Initiative totschweigen. Öffentliche Resonanz findet das Projekt vor allem mit seinem Dokumentationsband:* 15 000 Exemplare werden davon jährlich verkauft. Das reicht nicht an Bestseller heran, wie sie etwa Noam Chomsky oder Neil Postman geschrieben haben. Es ist aber für Fachbücher, die sich mit Medien und Journalismus auseinandersetzen, ein bemerkenswerter Auflagenerfolg. Die Website www.projectcensored.org wird ebenfalls gut besucht: 30 000 Klicks seien es täglich, das ergebe 12 Millionen Besuche pro Jahr, sagt Phillips.

Nachahmer hat das Projekt in mehreren Ländern gefunden, darunter Kanada. Doch diese Experimente waren kurzlebig – offenbar haben die Initiatoren den Arbeitsaufwand unterschätzt. Lediglich in Deutschland gibt es einen Versuch, der mehrere Jahre überdauerte: Die Initiative Nachrichtenaufklärung ist jedoch im Vergleich zum amerikanischen Original ein Mauerblümchen geblieben, das in der Medienszene kaum jemand kennt.

* Peter Phillips / Andrew Roth with Project Censored (eds.): Censored 2009. The Top 25 Censored Stories of 2007–8. Seven Stories Press, New York u. a. 2008.

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