Grösse von Guillaume Brune

15. November 2007 • Medienpolitik • von

Weltwoche, 12. November 2007

Medienkunde ist oft Geschichtslektion. Truppenbewegungen im 15. Jahrhundert führten beispielsweise dazu, dass es nun in der Deutschschweiz sechs tägliche Gratiszeitungen gibt. Man kann die Medienbranche nur verstehen, wenn man das Jahr 1415 versteht. 

1415 überrannten die Truppen von Bern und Zürich den vormals habsburgischen Aargau und teilten ihn unter sich auf. Fast vier Jahrhunderte lang regierten die Vögte der Eroberer. Erst 1798, nach dem Einmarsch der Franzosen, befreite General Guillaume Brune den Aargau und gab ihm die Unabhängigkeit. Das Volk richtete Freiheitsbäume auf.

Jedem anständigen Aargauer stecken die 383 Jahre in bernischer und zürcherischer Knechtschaft noch heute in den Knochen. Peter Wanner, der Inhaber der AZ Medien und ihrer Aargauer Zeitung, ist ein anständiger Aargauer. Als die Zürcher und Berner nun mit der neuen Gratiszeitung News seine Region angriffen, war seine Wortwahl sehr aargauisch. Er sprach von einer «Kriegserklärung».

Erstmals seit 1415 wird darum die Deutschschweiz mit sechs täglichen Gratisblättern gesegnet sein. Da ist 20 Minuten der Zürcher Tamedia. Dann gibt es .ch, finanziert von Schweizer und Österreicher Investoren. Dann gibt es das neue News von Tamedia und ihrer Berner Tochter Espace Media. Dann gibt es die zwei Ringier-Gratistitel Heute und Cash daily.

Nun kommt noch die AZ kompakt dazu, die Gegenmassnahme des Aargauers Wanner gegen den Angriff von News. Der sechste Gratistitel wird morgens an die Abonnenten der Aargauer Zeitung geliefert und kann auch über öffentliche Kanäle verteilt werden.

Jeder kämpft gegen jeden, ohne Rücksicht auf Verluste. Ökonomisch betrachtet, ist das blanker Wahnsinn. Aber es geht nicht um Ökonomie. Es geht um 1415, 1411 und um 1833.

Mediengeschichte ist oft ein Abbild der realen Geschichte. Die Geschichte der Schweiz ist eine Geschichte der Territorialkämpfe. Nur gegen aussen trat man unter dem gemeinsamen Label der Eidgenossenschaft an, intern aber bekriegte man sich um jedes Stück Land. Die kollektive Erinnerung daran schlägt sich archetypisch in den Territorialkonflikten der Medienbranche nieder.

Als die Berner Zeitung 2001 ihr Solothurner Tagblatt als Kampfmassnahme gegen die bestehende Solothurner Zeitung lancierte, setzte es vor Ort einen Schrei der Empörung. VR-Präsident Rudolf Rentsch sprach von einem «Frontalangriff». Denn allzu gut kann sich Solothurn an den Konflikt ums Bipperamt von 1411 erinnern, als ihm Bern die sichere Beute entriss. Seitdem weiss jeder anständige Solothurner, dass die Berner nur ins Städtchen kommen, um hier zu plündern.

Nie hat man Matthias Hagemann, den Verleger der Basler Zeitung, aufgebrachter gesehen als 2006. Damals schloss sich die Basellandschaftliche Zeitung dem Verbund der Mittelland-Zeitung an. Hagemann sprach von einer «Kriegserklärung». Allzu gut kann sich Basel an die Schlacht bei der Hülftenschanze von 1833 erinnern, als sich die Landschaft mit Truppengewalt von der Stadt abspaltete. Seitdem weiss jeder anständige Basler, dass auf die Baselbieter kein Verlass ist.

Oder nehmen wir den Alten Zürichkrieg nach 1440. Zürich expandierte skrupellos in die Region. Dann drehte das Kriegsglück, und die Stadt verlor unter dem Jubel der Landbevölkerung in kurzer Zeit Grüningen, Kyburg und Regensberg. 660 Jahre später versuchte die Stadtzürcher Tamedia an exakt diesen Schauplätzen die Zürichsee-Zeitung, den Zürcher Oberländer und den Zürcher Unterländer zu übernehmen. Natürlich stiess Tamedia auf Widerstand. Seit 1440 weiss jeder anständige Zürcher Landmann, dass die Stadtzürcher Kolonialisten sind.

Tamedia-Chef Martin Kall könnte sich im Aargau ähnlich verschätzen. In Köln, wo er geboren ist, waren 1440 und 1415 kein Thema im Geschichtsunterricht.

 

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