Im Sog des medialen Populismus

29. Juni 2007 • Medienpolitik, Qualität & Ethik • von

Neue Zürcher Zeitung, 29.6.2007

Ein kritischer Blick auf die Fernsehkultur des Service public
Den öffentlichen Sendern droht weiterhin Profilverlust. Sie entwickeln sich zu überdimensionierten Unterhaltungsmaschinen, wie der Publizistikprofessor Stephan Russ-Mohl in einer kritischen Bilanz meint.

Ist der öffentlichrechtliche Rundfunk ein Auslaufmodell? Sicher nicht in der Schweiz, wo die SRG sich mit einem Fernsehmarktanteil von gut 32 Prozent behauptet. Zwar ist das Schweizer Fernsehen umzingelt von ausländischen Wettbewerbern, aber letztlich operiert es doch unter Sonderbedingungen in seiner Marktnische mit beachtlichem Erfolg. Blickt man indes auf die Nachbarländer, so werden grosse Anstalten wie die ARD, die BBC und die italienische RAI jedoch immer mehr zum Opfer einer Dynamik, welche Ökonomen als «Tyrannei der kleinen Entscheidungen» bezeichnen: Millionen Zuschauer zwingen bei der täglichen «Abstimmung» mit der Fernbedienung ein Programm herbei, das immer mehr sein öffentlichrechtliches Profil verliert. Es könnte genauso gut, aber zu einem Bruchteil der Kosten, von privaten Anbietern ausgestrahlt werden. Die Minderheiten, die Anspruchsvolles für ihre Gebührengelder erwarten, gehen leer aus – zumindest zu den Hauptsendezeiten bei den grossen Anbietern.

Eine Summe kleiner Entscheide

Was sich ganz offensichtlich zu einem mittel- bis langfristigen Trend entwickelt hat, ist das Ergebnis einer infinitesimalen Zahl von «kleinen» Einzelentscheiden, die auch grosse und mächtige Organisationen zu einer Zielverschiebung zwingen können: Um gute Einschaltquoten zu erreichen, werden fundierte Informationsangebote, aber auch Kultursendungen wie die «Sternstunden» auf Randzeiten geschoben, noch eine Talkshow ersetzt das Hintergrundprogramm – und mit jedem Relaunch der Hauptnachrichtensendungen werden ein paar Minuten mehr für Unfall- und Katastrophenmeldungen, für Sex and Crime und für aktuelle Sportmeldungen freigeräumt.

Letztlich können sich auch öffentliche Anbieter nicht dem Markt und der Nachfrage entziehen. Es sind ökonomische Anreize, welche sie in überdimensionierte Unterhaltungsmaschinerien verwandeln: mehr Zirkusspiele für «couch potatoes», weniger Aufklärung für die viel kleinere Schicht der Wissbegierigen und Bildungshungrigen – nur so lässt sich die Mehrzahl der Gebührenzahler beglücken.

Im Fokus von Skandalen
Obendrein sind in jüngster Zeit öffentliche Sender von einer Krise in die nächste geschlittert: Allein die ARD war in mehrere Schleichwerbungs- und Korruptionsskandale verstrickt. Der gravierendste um die Seifenoper «Marienhof» währte zehn Jahre lang, bevor ein investigativer Reporter die Machenschaften aufdeckte. Die Exklusiv-Berichterstattung über den gedopten Radrennfahrer Jan Ullrich sicherte sich der Senderverbund, indem er Gebührengelder zweckentfremdete, um den Sportler zu sponsern. Peinlich waren auch das Hickhack um Günther Jauch, der für die Nachfolge der Christiansen-Talkshow ausersehen war, der Umgang mit den Stasi-Verstrickungen des Sportreporters Hagen Bossdorf und die Wiederausladung des russischen Regimekritikers Kasparow aus einer Talkshow – um nur einige Fälle zu nennen.

Auch die altehrwürdige BBC hat mit Skandalen und Affären zu kämpfen. Besonders dramatisch: der Selbstmord des britischen Wissenschafters David Kelly, der im Zusammenhang mit der Irak-Berichterstattung der BBC zwischen die politischen Fronten geriet. Generaldirektor Greg Dyke musste zurücktreten, um weiteren Schaden von seinem Sender abzuwenden. Später sass die BBC einem Hochstapler auf, der als angeblicher Unternehmenssprecher von Dow Chemical zum 20. Jahrestag den Opfern der Giftgaskatastrophe im indischen Bhopal Entschädigungen in Milliardenhöhe versprach. Der Mann war weder dem Unternehmen noch der BBC bekannt, doch der Sender verbreitete seine Falschmeldung. Anders als man es von einem öffentlichen Sender erwarten sollte, hielt die BBC auch den «Balen- Report» unter Verschluss – eine Untersuchung, welche die Nahost-Berichterstattung des Senders auf vermutete Einseitigkeit hin analysiert hatte. Mit Anrufsendungen machte sich die BBC ausserdem jüngst der Abzockerei verdächtig.

Italienische Verhältnisse
Die RAI, seit eh und je der Zankapfel der italienischen Parteien, hat vor allem unter Berlusconis Ministerpräsidentschaft weitere Federn lassen müssen. Der Medienmogul nutzte seinen Einfluss schamlos aus, um den einzigen Wettbewerber seiner drei erfolgreichen Privatsender zu demontieren und kritische Stimmen innerhalb der RAI mundtot zu machen.

Auch die neue Regierung hat dem Sender bisher nicht zu mehr Unabhängigkeit von der Politik verholfen – im Gegenteil, die Konflikte in der Führungsspitze des Senders sind so harsch, dass das Schlagwort der «Unregierbarkeit» kursiert. Obendrein schreibt die RAI rote Zahlen und verliert Zuschauer an Berlusconis Mediaset. Auch der ORF in Wien geriet wiederholt in die Schlagzeilen – unter anderem, als es dem Personalrat glückte, rund 1000 freie Mitarbeiter in Festanstellungen überzuführen, während anderswo längst Mitarbeiter scharenweise outgesourct wurden. Zuletzt floppte die teure, in Eigenregie produzierte Soap «Mitten im Achten». Kaum die ersten Male ausgestrahlt, musste der neue Intendant Alexander Wrabetz dieses Herzstück seiner Programmreform absetzen.

In der Schweiz sind die Fernsehgewaltigen – wie der breit angelegte Diskurs um das neue Leitbild zeigte – gesprächsbereiter und offener als anderswo. Weil es drei Sprachräume zu versorgen gilt, ist alles kleinteiliger, überschaubarer, und damit haben wohl auch Fernsehleute mehr Bodenhaftung und Bürgersinn. Bedrängt von der ausländischen Konkurrenz, wird allenfalls die «Swissness» überakzentuiert. Bis hin zur Wettervorhersage spielt man sie so triumphierend aus, dass selbst wohlmeinende Nicht-Schweizer das als Kasperletheater und integrationswillige Neubürger eigentlich nur noch als Kriegserklärung deuten können.

Überall ein ähnliches Drama
In den Nachbarländern dagegen scheint sich fast überall, wo der öffentliche Rundfunk mehr als eine marginale Rolle spielt, ein ähnliches Drama abzuspielen: Bevor der Populismus in der Politik mehrheitsfähig wird, siegt er in den Medien. Vom Markt und damit von der Tyrannei und dem Geschmack des Massenpublikums sind auch öffentliche Anbieter abhängig.

Statt ein öffentliches Gut bereitzustellen und jene Marktnischen zu füllen, die von kommerziellen Anbietern nicht bedient werden können, konvergieren die Service-public-Programme immer mehr mit denen der privaten Konkurrenz. Und sie treiben mit Gebührengeldern im Poker um Sportrechte oder Showstars die Preise – statt vornehmlich solche Informations-, Unterhaltungs-, Bildungs- und Minderheitenprogramme und innovative Experimente zu fördern, die von den Privaten nicht finanzierbar sind.

Preistreiberei bei Sportrechten

Die Summen, die Giganten wie der ARD und dem ZDF zur Verfügung stehen, sind astronomisch. Man hat sie systematisch dazu genutzt, um Privaten den Marktzugang zu verbauen, wo diese mit Erfolgsaussicht hätten tätig werden können. Dagegen haben die Öffentlichrechtlichen dort kaum investiert, wo eigentlich ihre Stärken sein sollten: Nachrichtenkanäle wie N-TV oder N-24 betreiben – einmal abgesehen von Euronews – die Privaten, das Bildungsfernsehen überlässt man den Universitäten, die bi- oder trinationale Koordination von Kulturprogrammen wie Arte und 3sat ist offenbar so kompliziert, dass man sich an grössere europäische Projekte nicht herantraut. Treuherzig versichern uns dieselben Hierarchen, die sich als Preistreiber bei Sportrechten und Klamauk-Entertainment betätigen, es herrsche Sparzwang – vorzugsweise in all den Bereichen, die zum Kerngeschäft des Service public gehören.

Kassandrarufe gibt es, aber die mächtigen Anstalten schweigen diese meist tot. Der frühere China-Korrespondent der ARD Jürgen Bertram hat kürzlich in einer ebenso lesenswerten wie faktenreichen Generalabrechnung mit seinem ehemaligen Arbeitgeber NDR «Das Ende der Fernsehkultur» deklariert. Seinen Sender erkannte er nach der Rückkehr vom jahrelangen Auslandseinsatz im Fernen Osten nicht mehr wieder.

«SOS ORF»
Auch in Österreich gärt es. Eine Bürgerplattform «SOS ORF» hat letztes Jahr erfolgreich über 60 000 Unterschriften gesammelt, und es wurde ein Sammelband von 57 Autoren aus den verschiedensten politischen und gesellschaftlichen Lagern präsentiert, die sich um die Zukunft des öffentlichen Rundfunks sorgen. Der Titel des Buchs – «Der Auftrag» – gemahnt an das, was auch dem ORF abhandenzukommen droht.

Doch Plattformen, wo kritisch über den Medienbetrieb informiert oder gar diskutiert werden könnte, sind im öffentlichen Fernsehen längst abgeschafft. Dafür agieren die Sender in der Selbstpromotion immer dreister. Die deutschen Hauptnachrichtensendungen sind zu einem Tummelplatz für Programm-Schleichwerbung geworden. Über die eigenen Sender wird so affirmativ berichtet, als würden die Pressestellen von ARD und ZDF die Fernsehnachrichten verantworten. Was nur noch peinlich ist, wenn man Bemühen um Distanz und Objektivität als journalistische Qualitätskriterien ernst nimmt und die Sender an ihrem Daseinszweck misst.

Fett und träge
Zusammengenommen deuten viele Indizien darauf hin, dass sich der Service public überlebt, weil die Rundfunkanstalten fett und träge geworden sind und am Wachstum ihrer Bürokratien zu ersticken drohen. Besonders augenfällig ist das beim Senderkonglomerat der ARD. «Man kann die Rundfunkfreiheit auch im Filz ersticken», hat schon vor Jahren der Publizistikwissenschafter Harry Pross beobachtet, der selbst einmal Fernsehdirektor bei Radio Bremen war.

Kurt Biedenkopf, ein erfahrener Rundfunkpolitiker aus dem anderen politischen Lager, hat – ebenfalls noch in den neunziger Jahren – darauf aufmerksam gemacht, wie Intendanten und andere Hierarchen in den Sendern dazu neigten, sich über Parteigrenzen hinweg zu kartellisieren. Wer sich wechselseitig stütze, immunisiere sich gegen jedwede Kritik und Kontrolle. Das Problem sind also nicht einmal die Parteizugehörigkeiten der meist im Reissverschlussverfahren (einer links, der Nächste rechts) gekürten Amtsinhaber, sondern die Allianzen über diese Parteigrenzen hinweg. Und natürlich sind Politiker, die vor den Fernsehmächtigen zittern, weil ihre Karrieren auch von der Fernsehberichterstattung abhängen, schlecht geeignete Kandidaten, um ein Minimum an Aufsicht zu gewährleisten.

Unzeitgemässes Finanzierungsmodell
Aber auch das Finanzierungsmodell des Service public ist nicht mehr zeitgerecht: In Deutschland hat es den Apparat der Öffentlichrechtlichen gigantisch aufgebläht. Was C. Northcote Parkinson in seinem Bestseller am Beispiel der britischen Admiralität beschrieb, hat sich ein Jahrhundert später als Frucht des Kulturföderalismus und fehlender Kontrollinstanzen beim Rundfunk neuerlich bewahrheitet. Auch in puncto Finanzen haben wir in der Schweiz eine Sondersituation: Die Gebühr pro Kopf ist zwar noch höher als in Deutschland. Die Einkünfte der SRG nehmen sich gleichwohl im Vergleich zu ARD und ZDF bescheiden aus – es gibt eben nur knapp acht statt über achtzig Millionen Einwohner als potenzielle Gebührenzahler. Trotzdem muss das Geld reichen, um in drei verschiedenen Sprachen passable Fernsehprogramme anzubieten.

Ökonomisch betrachtet, ist der öffentliche Rundfunk eine teure Fehlkonstruktion. Trotzdem erscheint er vielen noch immer unersetzlich. In den grossen Nachbarländern erkauft er sich sein Überleben, indem er sich den Privaten anpasst, statt diese mit Alternativen herauszufordern. Unter den Sonderbedingungen der Schweiz hat der Service public eher eine Chance, ohne Identitätsverlust zu überleben, als in den grösseren Märkten nebenan. Aber auch in der Schweiz drängt der Markt, sprich: die Massennachfrage, das Anspruchsvolle in die Nische.

Programmalternativen als Kernpunkt
Es mag paradox erscheinen: Just jene Institutionen, die als Service public dem Markt entgegenwirken sollen, können sich den Kräften des Marktes nicht entziehen. Wer darin ein Übel sieht und sich die «guten alten Zeiten» öffentlicher Monopole herbeiwünscht, sollte sich allerdings auch eingestehen, dass er damit der Bevormundung mündiger Bürger das Wort redet. Aufgabe des Service public sollte es indes sein, deren Wahlfreiheit zu erhöhen. Programmalternativen, nicht Anpassung an die Privaten, sind und bleiben die Raison d'être des Service public.

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