Neue Zürcher Zeitung, 1. Februar 2008
Wissenschafter analysieren die Irak-Kampagne der US-Regierung
Dass US-Präsident Bush und seine Regierung im Vorfeld des Irak-Kriegs mit ihrer Behauptung, Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen und über enge Verbindungen zu al-Kaida, die Öffentlichkeit belogen haben, ist inzwischen kaum noch strittig. Wie oft und mit welchen Statements sie das getan haben, haben jetzt Forscher auf einer Website dokumentiert.
Sie belegt auf eindrucksvolle Weise, wie die Medien zum Opfer einer grossangelegten regierungsamtlichen Kampagne geworden sein dürften: Bei Hunderten von Gelegenheiten hätten Bush und seine Regierungsmitglieder in den zwei Jahren nach den Attacken auf das World Trade Center und das Pentagon mindestens 935-mal Falschaussagen verbreitet, so berichten Charles Lewis und Mark Reading-Smith vom Center for Public Integrity, einem Institut in Washington, das investigativen Journalismus fördert und sich mit ethischen Fragen des Regierungshandelns beschäftigt (www.publicintegrity.org).
Der Bericht spricht von «orchestrierten Lügen auf dem Weg zum Krieg» – und wer sich durch die Website hindurchklickt, kann sich kaum noch des Eindrucks entziehen, dass diese Einschätzung zutrifft. Die US-Regierung hat ihre Statements immer wieder damit verteidigt, dass sie auf den damals verfügbaren Geheimdienstinformationen basiert gewesen seien. Laut der «New York Times» ist inzwischen allerdings belegt, dass zumindest einige der Behauptungen in klarem Widerspruch zu den seinerzeitigen Geheimdienstberichten gestanden hätten.
Die Dokumentation des Center for Public Integrity bereichert in ihrer Materialfülle auch die wissenschaftliche Fachdiskussion um das sogenannte Spin-Doctoring in der öffentlichen Kommunikation von Regierungen. Statt sich über unethisches Verhalten zu erregen, wird in diesem Diskurs vor allem von Ökonomen zunehmend danach gefragt, unter welchen gesellschaftlichen und medialen Rahmenbedingungen «professionelles Lügen» selbst dann ungeahndet bleibt, wenn die Akteure dabei erwischt werden. Dass diese Frage nicht nur von akademischem Interesse ist, weiss jeder von uns aus dem Alltagsleben: Ob man schwindelt oder mit Notlügen operiert, hängt nicht nur von der Wahrscheinlichkeit ab, mit der man ertappt wird, sondern auch von den dann drohenden Sanktionen. Was sich zu ändern scheint, ist die Durchschlagskraft medialer Moralisierung und Skandalisierung: Während Präsidenten wie Nixon und Johnson aufgrund des Drucks der Medien und der Öffentlichkeit ihre Ämter verloren, scheint Bush Jr. weit weniger in Bedrängnis geraten zu sein.
Schlagwörter:George W. Bush, Irak-Berichterstattung, US-Regierung